Spätestens seit John Cranko, der legendäre Schöpfer des Stuttgarter Ballettwunders, in den 60er Jahren das große abendfüllende Handlungsballett neu belebt hat, ist dieses Genre aus dem Repertoire des Stuttgarter Balletts nicht wegzudenken. Die großen Crankoballette nach literarischen Stoffen – Romeo und Julia, Eugen Onegin – sind fester Bestand, und mit dem langjährigen Hauschoreographen Christian Spuck erhielt es neue Impulse mit Lulu und Der Sandmann. Spuck ist inzwischen Ballettchef in Zürich. Jetzt hat Demis Volpi sich dieser Form angenommen: Er wurde als Tänzer in Stuttgart groß, tanzte die großen Rollen in den Handlungsballetten. Als literarische Vorlage wählte er sich das Jugendbuch Krabat von Otfried Preußler. Krabat ist eine Mischung aus Volksmärchentradition und Jugendbuch – um einen Zauberer, die Verführung zur Macht und die erlösende Liebe.
Was für ein fulminanter Anfang! Zu gleißend hohen Streicherklängen nähert sich Krabat neugierig der alten Mühle, von der er noch nicht weiß, dass sie eine Zaubererherberge ist. Von hinten schleicht sich der Meister, sprich der alte Zauberer, an Krabat heran, als wäre er der aus Friedrich Wilhelm Murnaus Stummfilm aus dem Jahr 1922 entstiegene Vampir Nosferatu – mit knöchern abgespreizten Fingern, mit deren Spitzen er Krabat buchstäblich an der Nase herumführt, mit seinen Bewegungen zur Marionette degradiert. Besser kann man die unheimliche Zauberkraft dieses Mannes kaum mehr choreographieren, und eine bessere Musik als die Minimal Musik eines Philip Glass hätte sich Volpi für solche Szenen nicht aussuchen können.
Volpi hält die Spannung dieser ersten Szene durch, bis zum Ende. In der Mühle wird Krabat Teil des Arbeitsalltags. Wie Sisyphusarbeit mutet an, was seine elf Genossen mit den Mehlsäcken anstellen müssen, ständig dieselben Bewegungen, scheinbar ohne Ziel, reinster Leerlauf. Volpi hat sich dazu eine raffinierte Klangcollage aus den Geräuschen eines echten alten Mühlenwerks anfertigen lassen, die schließlich infernalisch laut von allen Seiten auf Tänzer wie Zuschauer eindringt. Wenn Krabat und sein Freund Tonda dann bei einem Spaziergang auf die reale Welt stoßen, vertreten durch Mädchen, in die sie sich verlieben, greift Volpi zum schlichten Volkslied – mit dem sehr bezeichnenden Text: Die Gedanken sind frei – denn für Krabat und seine Genossen sind sie das eben nicht.
Raffiniert steigert Volpi die unheimliche Atmosphäre unter den zwölf Jugendlichen, und die düster beklemmenden Szenen werden noch beklemmender durch die Musik von Krzystoph Penderecki.
Volpi hält sich genau an die Handlung von Preußlers Buch, aber er verzichtet auf jegliches historisches Kolorit. So wird ein fast zeitloses Drama daraus. Das vorzügliche Libretto hat Teil an dieser dichten Atmosphäre. Wie in einem Märchen üblich wiederholen sich Standardszenen wie die Verzauberung des Neuankömmlings. Mit jedem Akt werden diese gleichen Szenen kürzer, komprimierter. So ist ein zeitloses Drama um Verführung, Verlust der Identität, mühsame Wiedergewinnung der eigenen Persönlichkeit entstanden.
Grandios weiß Volpi mit scheinbar schlichten Einfällen die Szenen und Akteure zu charakterisieren. David Moore als Krabat lässt die Arme abgewinkelt auf und ab flattern und erinnert an einen Vogel, der seine Fähigkeit verloren hat, sich in die Lüfte auf und davon zu erheben, so wie ja auch Krabat unfähig ist, seinem Gefängnis zu entkommen.
Die Sphäre der Freiheit, verkörpert durch die Mädchen im benachbarten Dorf, ist geprägt von schwereloser Leichtigkeit mit Spitzentanz, die dann verloren geht, wenn eines der Mädchen unter die Gewalt des Meisters gerät. Nur warum Gevatter Tod ausgerechnet als männermordender Vamp auf die Bühne kommt, bleibt unerfindlich.