Man braucht nicht viel zu einem Holzschnitt, es genügen: ein Holzbrett, ein scharfes Messer und Farbe. Damit hat man sich jahrhundertelang begnügt. Aber spätestens seit Holzschneider wie HAP Grieshaber ganze Türen als Druckstöcke benutzten, von Gewehrkugeln durchlöcherte Bretter oder gedrechselte Stuhlbeine, waren der Vielfalt der Materialien, mit denen man drucken konnte, keine Grenzen gesetzt. Verglichen damit ist der 1986 geborene Lukas Weiß, Gewinner des diesjährigen Holzschnitt-Förderpreises des Freundeskreises Kunstmuseum in Reutlingen, ein Minimalist. Er hat als Druckstock das Stäbchenparkett entdeckt und gestaltet aus damit gedruckten schmalen rechteckigen Streifen Bilder von mehreren Quadratmetern, die jetzt das Kunstmuseum Reutlingen zeigt.
Blues, 2018 © Lukas Weiß, Leipzig. Foto: Barbara Proschak, Leipzig
Man sieht das Parkett allenthalben. Auf einem großen Bild hat Weiß den ganzen Hintergrund damit bedruckt, ein Stäbchen neben dem anderen – abstrakter geht es eigentlich nicht, und doch gelingt es Weiß mit seinem formal so eintönigen Material, gegenständliche Welten zu gestalten. Da werden die schmalen Streifen unversehens zu den Stockwerken eines Hochhauses oder zum Pflastermuster städtischer Straßen. Menschen finden sich in diesen Szenarien nicht, auch wenn eines der Bilder Markt heißt.
Doch bei aller Nähe zu Stadtansichten trägt das Druckmaterial zugleich auch zu einer Abstrahierung bei. So sind Weiß‘ Bilder gegenständlich und zugleich abstrakt, sie wirken wie realistische Hausansichten und sind doch zugleich hochgradig konstruiert, und bei allem sieht man stets, dass der Druckstock aus Holz ist, die Maserung ist fast immer deutlich erkennbar.
Den Hang zur Abstraktion verstärkt Weiß noch durch andere Gestaltungselemente. Nicht selten finden sich Flächen oder Streifen in seinen Bildern, die gegenständlich nicht zu deuten sind – hier ein weißer Streifen, der das Bild in zwei unterschiedlich große Teile zu trennen scheint, da ein dunkles Rechteck ohne Sinnzusammenhang mit der restlichen Szenerie. Bei dem Bild mit dem Hochhaus findet sich solch ein schwer deutbarer orangefarbener Streifen am linken Rand – das könnte die Mauer eines benachbarten Gebäudes sein, wirkt aber eher rein formal, und auf der rechten Seite dieses Bildes fasert die mit dem Hochhaus als Stadtlandschaft interpretierbare Bildwelt in lauter einzelne Flecken aus. Jedes dieser Bilder befindet sich an der Nahtstelle zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktheit und scheint mal in die eine Richtung, mal in die andere zu kippen.
Zudem vermischt Weiß auf vielen Bildern die Perspektiven. So sehen wir beispielsweise frontal auf einen Häuserblock, zugleich aber auch wie aus der Vogelperspektive die Straßen von oben. Auf diese Weise verlieren die Szenen aus der Großstadt, die so wiedererkennbar sind, an Realitätsgehalt. Man meint, Traumwelten vor sich zu haben, Traumwelten aus Parkettstäbchen.
Nacht, 2019 © Lukas Weiß, Leipzig. Foto: Barbara Proschak, Leipzig
Bei seinem Bild Nacht ist nahezu nichts als ein Nebeneinander solcher Stäbchenabdrucke zu sehen, und doch ist man sofort geneigt, die Strukturen als Skyline einer Metropole zu deuten.
Außerdem begnügt sich Weiß nicht mit dem Hochdruck des Holzschnitts, er ergänzt diesen mit Tiefdruckverfahren und bringt so Linien in seine Bildwelten ein, die in einem Fall als Schienen eines Bahnhofs zu interpretieren sind. So zieht er gewissermaßen dem Betrachter auch rein drucktechnisch den festen Boden unter den Füßen weg.
Überlegung, 2019 © Lukas Weiß, Leipzig. Foto: Barbara Proschak, Leipzig
Dieses Vexierspiel mit den verschiedenen Aspekten der Holzschnitttechnik findet sich erst recht bei seinen Figurenbildern. Da ruht eine Frauengestalt auf dem Boden in einem Zimmer, hier dienen die Stäbchenstreifen tatsächlich als Andeutung von Fußbodenparkett. Doch die Frau scheint aus dem Druck ausgespart zu sein, eine „Negativfigur“, ist aber in Wirklichkeit nachträglich mit einer anderen Druckplatte über die Stäbchenstruktur gedruckt. Was auf den ersten Blick so eindeutig und simpel wirkt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als hochgradig raffiniertes Spiel mit allen Ebenen des Holzdrucks, zumal Weiß mit seinem Ausgangsmaterial auch noch die Technik ins Gegenteil verkehrt, denn der Holzschnitt zeichnet sich dadurch aus, dass der Künstler aus der Holzplatte all das wegschneidet, was nicht farbig gedruckt erscheinen soll, es ist also ein „subtraktives“ Verfahren. Weiß dagegen setzt seine Bildwelten aus lauter gleichen Streifen zusammen. Bei ihm ist der Holzschnitt ein additives Verfahren.
„Lukas Weiß: Aufs Tor“, Kunstmuseum Reutlingen/Spendhaus bis 22.9.2019, Katalog 39 Seiten,10 Euro