Man kann diese Oper in antikem Gewand inszenieren, schließlich spielt sie am Hof des Königs Theseus aus der griechischen Mythologie. Man kann sie auch in barockem Gewand spielen, sie wurde 1733 uraufgeführt, König Ludwig XIV. war da noch nicht einmal zwanzig Jahre tot. Und man kann sie natürlich auch in unsere Zeit verlegen. Mit Ausnahme der Antike hat sich Regisseur Lorenzo Fioroni am Nationaltheater Mannheim jetzt für einen Epochenmix entschieden, und das mit gutem Grund.
Sophie Rennert (Phèdre), Chor, Bewegungsstatisterie © Christian Kleiner
Ehe die eigentliche Oper beginnt, füllen sich allmählich Bühne und Publikumsraum; Letzterer wegen Corona derzeit nur spärlich und mit Personal des Opernhauses, gekleidet, als wollten sie eine Theateraufführung in Schloss Versailles zur Zeit des Absolutismus besuchen. Die Fassade sowie Innenräume des Schlosses bilden als Projektion einen Teil des Bühnenbilds. Sogar der Billardtisch des Sonnenkönigs wurde nachgebaut. Doch daneben finden sich auch Menschen wie du und ich, und wenn Hippolyte und seine geliebte Aricie von Theseus‘ Hof fliehen wollen, tun sie das in einem modernen Straßenkreuzer. In Fioronis Inszenierung mischen sich die Zeiten. Wenn Militär auftritt, dann in Uniformen aus verschiedenen Epochen Frankreichs. Dieses Stück, so legt die Inszenierung nahe, kann zu allen Zeiten spielen, denn es geht um nichts Geringeres als um die Liebe, in den unterschiedlichsten Spielarten, und dieses Gefühl ist zeitlos. Daher finden sich auch Demonstranten unsere Tage, die mit ihren Transparenten für die Liebe auf die Straße ziehen: „Oser l’amour!“
Wie verschieden die Liebe ausfallen kann, hatte Rameau in einem von ihm allerdings wieder gestrichenen Prolog zur Sprache gebracht. Da streiten sich Diana und Amor, ob es, so will es die Göttin der Jagd (die zugleich in der Antike als Beschützerin der Frauen galt), geordnet und moralisch zugehen soll, oder wie es der Gott mit den Liebespfeilen will, chaotisch und ganz den Emotionen folgend; es geht um den Gegensatz von legaler und freier Liebe. Fioroni kommt zwar auch ohne den Prolog aus, aber seine Inszenierung ist ganz von diesem Zwiespalt gekennzeichnet.
Moralisch gesehen befindet sich Phädra, die zweite Frau von König Theseus, auf der illegalen Seite, denn sie liebt dessen Sohn aus erster Ehe, Hippolyte. Dieser wiederum liebt, und das ist die moralisch korrekte Liebe und sie ist gleichermaßen emotional tief, Aricie. Wer freilich die Musik genau betrachtet, dem können Zweifel kommen, ob der Komponist auf der Seite dieser zweiten Liebe steht, denn Phädras Arien sind voller Emotionen, die von tiefer Innigkeit bis rasender Wut auf die Nebenbuhlerin reichen. Sophie Rennert lotet die Bandbreite dieses Gefühlslebens fulminant aus, mit einem vollen Sopran gelingen ihr innige Liebesbekenntnisse ebenso wie rasender Zorn. Doch steht ihr ihre Kontrahentin um die Liebesgunst Hippolytes in nichts nach. Amelia Scicolone als Aricie verbreitet mädchenhafte Leichtigkeit mit herrlichen Koloraturen. Und Charles Sy kann mit kraftvollem und zugleich lyrischem Tenor die schwierigen emotionalen Ausbrüche brillant meistern. Dirigent Bernhard Forck gelingt eine wunderbar lebendige Realisierung der Partitur, die auch heute noch jede emotionale Regung nachvollziehbar macht.
Patrick Zielke (Jupiter/Pluton), Estelle Kruger (Diane), Charles Sy (Hippolyte) © Christian Kleiner
Der Epochenmix, der Fioronis Inszenierung prägt, macht auch aus Sicht der Musik Sinn, denn Rameau revolutionierte mit diesem Stück die Gattung Oper. So viele tiefe Emotionen finden sich bei seinem Vorgänger Lully kaum. Rameau lotet das ganze Spektrum musikalisch aus, mit seiner Oper beginnt in dieser Kunstform eine neue Zeit – und auch die Handlung deutet den Beginn einer neuen Zeit an, denn am Ende befinden Jupiter und Diana, dass Hippolyte, der bereits tot in der Unterwelt weilt, das Leben und seine geliebte Aricie zurückgewinnen und als König über ein neues Volk herrschen soll. Fioroni führt am Ende seiner Inszenierung konsequent den Absolutismus eines Ludwig XIV. historisch weiter, und das heißt in die Revolution, vertreten durch die Guillotine.
Sophie Rennert © Christian Kleiner
Und weil das Ganze in dieser Inszenierung ein Spiel mit Epochen und Gesellschaften ist, bringt Fioroni es auch als Spiel auf die Bühne. Requisiten und Garderobenständer wirken da zusammengewürfelt wie auf einer Probebühne oder in einer Requisitenkammer, alles scheint vorläufig und ist doch genau kalkuliert. Paul Zoller und Loriana Casagrande haben mit wenigen Elementen eine Bühne geschaffen, in der alle nötigen Anspielungen vorhanden sind, die Fassade von Schloss Versailles als Projektion, der Billardtisch Ludwigs XIV., aber auch ein Schminktisch heutiger Theatergarderoben. Große Liebe als theatralische Improvisation. Eine fulminante Erneuerung von Rameaus Oper ganz aus dem Geist der Musik heraus.
Das Video der Premiere, die coronabedingt ohne Livepublikum im Internet zu sehen war, ist bis 30.6.2021 abrufbar
https://www.nationaltheater-mannheim.de/de/index-digital.php