Vielleicht lag es an der Erfindung der Fotografie, die im 19. Jahrhundert die Möglichkeiten der Realitätswiedergabe revolutionierte, indem sie das Bild der Welt mittels des Lichts auf Papier bannte, dass sich im 20. Jahrhundert Künstler zunehmend mit dem Licht befassten. László Moholy-Nagy arbeitete mit lichtempfindlichen Beschichtungen, Otto Piene kreierte Lichtballette, Dan Flavin schuf Installationen mit Leuchtstoffröhren und James Turrell entmaterialisiert Raumwände mit Licht und lässt den Betrachter in Farbwolken eintauchen. Allen gemeinsam: Ihren Arbeiten liegt eine künstliche Lichtquelle zugrunde. Nicht so bei Hermann Waibel. Seit sechzig Jahren kreist seine Kunst um das Licht, aber er begnügt sich mit dem vorhandenen Licht im Freien oder im Innenraum. Dabei ging er geradezu wissenschaftlich vor und schuf zugleich hochgradig ästhetische Werke, wie eine Ausstellung im Ravensburger Kunstmuseum zeigt.
Lichtstruktur-Zeichnung, 1975 © Hermann Waibel
Gelegentlich griff er sogar zum schwarzen Kohlestift. Lichtstruktur-Zeichnung nannte er solche Graphiken, und der Betrachter meint zunächst eher etwas Luftig-Schwebendes wie Federgebilde vor sich zu haben. Doch ein Blick auf die gegenüberliegende Wand im Ravensburger Kunstmuseum offenbart, dass der Titel der Arbeit völlig zutrifft.
Lichtinstrument, 1977 © Hermann Waibel
Dort finden sich, auf eine weiße Polyesterfläche angebracht, gebogene kleine Acrylglasgebilde. Auf der rundlichen Oberfläche dieser Teile spiegelt sich das Licht, je nach Rundung unterschiedlich intensiv. Genau das hat Waibel auf seiner Zeichnung eingefangen. Das eigentliche Lichtkunstwerk aber ist nicht die Zeichnung, sondern das Relief aus Acrylelementen. Lichtinstrumente nennt Waibel diese Arbeiten, und tatsächlich gelingt es ihm, durch die Acrylscheiben, die in unterschiedlichen Winkeln auf der Polyesterfläche angebracht sind, das Licht zu modulieren, wie der Musiker die Tonarten. So ergeben sich auf der Polyederfläche verschiedene Lichtwirkungen, sogar schwarze Striche können sich dabei vor dem Auge auftun. Waibel lotet das ganze Spektrum dessen aus, was Licht auf einem solchen Reflexionselement bewirken kann, denn das ist das Wesentliche an Waibels Kunst. Da sie nicht mit Materie arbeitet, sondern nur mit Licht, ist seine Kunst ausschließlich eine „Wirkungsästhetik“. Erst durch das Zusammenspiel von Licht, das als reine Energie unsichtbar ist, und Materialien entwickelt sich eine optische Wirkung im Auge. Waibel macht das, was unsichtbar ist, sichtbar.
Diese Lichtinstrumente waren bereits die zweite Phase seines Schaffens. Davor entwickelte er Lichtstrukturen. Auch dieser Titel ist plausibel. Waibel schuf durch kleine Klötzchen, die er auf einer Platte anbrachte und dann mit weißem Polyester überzog, eine Struktur aus lauter Erhebungen. In ihnen fängt sich das Licht im matten Material und wird wie ein geheimnisvolles Leuchten reflektiert. Dabei ergibt sich ein raffiniertes Spiel mit Licht und Schatten, es entstehen Grauwerte neben weißen Erhebungen und fast schwarzen Höhlen.
Lichtstruktur, 1972 © Hermann Waibel
Waibel folgte bei der Gestaltung solcher Reliefs der Geometrie der Konkreten Kunst, aber er war nie Sklave der exakten Geometrie. Durch eine feine Veränderung von Klötzchengröße und Abständen zwischen den Klötzchen entwickelt sich eine geradezu musikalische Rhythmik, die zu optischen Täuschungen führen kann. So scheint sich ein Gebilde an den Ecken des Quadrats zu runden, zu wölben, obwohl Waibel auch hier wie in der ganzen Arbeit dem rechten Winkel in der Struktur treu bleibt. Das ist alles genauestens berechnet – und wirkt doch wie zufällig.
Und dieser Zufall ist die zweite Komponente seiner Arbeiten, denn Waibels Werke beziehen ihre Wirkmöglichkeiten aus dem vorhanden Außenlicht – im Freien dem Sonnenlicht, im Raum dem Lampenlicht. Vor allem außen werden seine an sich starren Gebilde plötzlich lebendig, denn das Licht wandert, und also wandern auch die Licht- und Schattenstrukturen auf den Reliefs. Dasselbe ergibt sich, wenn sich der Betrachter vor den Arbeiten bewegt. Starre geometrische Gebilde wirken kinetisch und lebendig.
Wie wichtig Waibel der Zufall ist, zeigen seine Strukturstörungen, für die er die Oberfläche seiner Bilder mit unregelmäßigen Schnitten aufreißt oder durch Feuer versengt und schwärzt. So macht er deutlich, dass Licht, weil pure Energie, auch zerstörerisch wirken kann.
Und Licht ist rätselhaft, weil irgendwie vorhanden, meist in Form vager Helligkeitswerte.
Raumlichtfarbe, 2002 © Hermann Waibel
Diesen Aspekt fängt Waibel mit seinen Raumlichtfarben ein, bei denen er mehrere mit farbigen Quadraten versehene Acrylglasscheiben hintereinander setzt. Das Licht wird diffus, scheint ohne Lichtquelle wie aus sich selbst heraus zu leuchten. Es ist, wie der Ausstellungstitel verheißt, Bildlicht, das nur durch das jeweilige Bild existiert.
So erhellen Waibels Arbeiten seit Jahrzehnten den Betrachter über das Wesen von Licht, ohne eine eigene zusätzliche Lichtquelle zu benötigen. Sie lassen Licht körperhaft wirken, ohne dass es an eine Materie gebunden wäre, und sie verweisen den Betrachter auf seine eigene Perspektive, machen deutlich, dass Wirkung vom aktiven Schauen abhängig ist.
„Hermann Waibel. Bildlicht“, Kunstmuseum Ravensburg bis 30.9.2018