Höhenangst hat der Held in Alfred Hitchcocks Film Vertigo, und der Meister des Suspense erzeugt im Kinobesucher durch eine raffinierte Kamerafahrt dieselbe psychische Bedrängnis. Hitchcock griff mit solchen filmischen Tricks 1959 für seinen Film auf das zurück, was sich in der Kunst der 50er Jahre großer Beliebtheit erfreute. Die OpArt, wie sie später genannt wurde, bedient sich weitgehend des Mittels der Augentäuschung. Ihre Arbeiten, meist auf zweidimensionalen Bildträgern, gaukeln Räumlichkeit vor, sogar Bewegung. Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt einen Überblick über das Spektrum der Spielarten und zeigt auf, dass wie vieles auch dies keinesfalls eine revolutionär neue Art der Bildherstellung war: Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels.
Wer derzeit das Foyer des Stuttgarter Kunstmuseums betritt, dem kann leicht schummrig vor Augen werden, denn auf den Boden ist eine riesige Spirale von Marina Apollonio aufgemalt. Blickt man intensiv darauf, dann meint man mal, der Boden wölbe sich nach oben, mal meint man, er ziehe alles in einem Todesstrudel nach unten. Erst recht ungemütlich wird es, wenn man die Spirale betritt, denn dann gerät man unversehens in einen Taumel, ähnlich dem, den der von Höhenangst geplagte Held in Alfred Hitchcocks Film Vertigo empfindet, der der Ausstellung den Titel gab. Die Spirale ist zugleich ein Vorgeschmack auf das, was einem in der neuen Ausstellung begegnet, nämlich Schwindel erregende Bilder, man könnte auch sagen, Bilder, die einem etwas vorschwindeln. So scheinen sich die Arbeiten von Bridget Riley aus den 60er Jahren vorzuwölben, und sich, wenn man sie mit dem Auge lange genug abtastet, gar in Wellenlinien zu bewegen.
Dieser Trick einer gewölbten Bildfläche ist freilich keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. Daneben hängt ein Bild von Parmigianino, das vor 500 Jahren entstand. Der Maler hat sich da porträtiert, als schaue er in einen Konvexspiegel, wie es der Bildtitel nahelegt. Die Hand ist übergroß, das Gesicht seltsam verzerrt. Allerdings begnügte sich dieser Maler nicht wie etwa Bridget Riley mit einer glatten Malfläche, seine Fläche ist gewölbt, ist also wie der Spiegel, in den der Maler angeblich schaut: konvex. Mit einem raffinierten Liniengeflecht hat Richard Anuszkiewicz genau das Wechselspiel von nach außen bzw. innen gewölbter Fläche gestaltet. Dieses Spiel mit der Sinnestäuschung hat der Ungar Victor Vasarely in den 50er Jahren zur Vollendung getrieben. Da scheinen sich Teile der Bilder einem entgegenschieben zu wollen, und doch ist alles zweidimensional flach.
Aber es ist nicht die einzige Möglichkeit, dem Auge Dinge vorzugaukeln. Beliebt wurden im 17. Jahrhundert die Anamorphosen, das sind Bilder, bei denen man auf dem Papier, auf das sie gemalt sind, nichts erkennt. Erst durch eine Spiegelung etwa in einem Zylinder enthüllen sie ihr Motiv, und in diesem Fall ahnt man auch, warum man zu einer Methode griff, die das Bild zunächst einmal unkenntlich macht: Die Szene ist eindeutig obszön. Daher nutzte man derlei Tricks auch für Texte, die geheim bleiben sollten.
Das alles sind Bilder, die es nur zu betrachten gilt, auch wenn man oft meint, sie fingen an, sich zu bewegen. Aber es gibt auch Bilder, die erst durch das eigene Zutun in Bewegung geraten. Bei den sogenannten Riefelbildern muss man an den Objekten vorbeigehen, dann enthüllen sie ihr eigentliches Gesicht; bei einem Bild aus dem 17. Jahrhundert ergeben sich sogar zwei verschiedene Antlitze. Etwas Ähnliches hat Carlos Cruz-Diez 1968 gemacht. Bei ihm allerdings verändert sich lediglich ein Muster, verglichen mit dem Pendant aus dem 17. Jahrhundert ungleich harmloser. So zeigt die Ausstellung, dass in früheren Jahrhunderten mit derlei Tricks nicht selten sehr viel raffinierter gearbeitet wurde als im technisch weiter entwickelten 20.
Oft relativ harmlos sind auch so manche Arbeiten, die mit Licht arbeiten. So sind die sich stets verändernden Lichtkästen von Grazia Varisco reizvoll anzusehen, viel mehr aber auch nicht, jedenfalls nicht heute im 21. Jahrhundert, wo jeder Bildschirmschoner viel fantasievollere Bilder hervorbringt. So sind die Arbeiten, die nur mit Stift oder Pinsel auf Papier oder Leinwand gezaubert wurden, oft ungleich vielschichtiger, denn sie reizen den Geist, das rätselhafte Spiel, das sich da vollzieht, rational zu erfassen.
Umkreis Guido Reni Riefelbild mit Porträts von Jesus und Maria, erste Hälfte 17. Jh.
Bei den bislang erläuterten Spielarten ist der Betrachter weitgehend mit dem Auge und dem Geist aktiv, sieht man einmal von den Riefelbildern ab. Das ändert sich, wenn er von Künstlern verleitet wird, in dunkle Kabinette abzutauchen, wie sie zum Beispiel Gianni Colombo Ende der 60er Jahre entwickelte. Da kreisen aus Licht gebildete Quadrate durch den Raum und irritieren jegliche Orientierung. Da scheinen sich blaue Fäden durch den Raum zu ziehen, die aber ohne Substanz sind, sodass man durch sie hindurchgehen kann wie in einem Albtraum. Dasselbe gilt für Gabriele Devecchis Räume, wo sich Wände ständig zu verschieben scheinen, Wände, die doch nur durch Licht vorgegaukelt werden. Und bei Adolf Luthers mit Laserstrahlen arbeitendem Raum wird der Besucher gar konstitutiver Mitarbeiter, denn erst wenn der Laserstrahl auf seinen Körper trifft, nimmt das Kunstwerk Form an. Hier wird der Besucher selbst mit seinem eigenen Körper zum bildenden Künstler. Und das kann er beim Verlassen des Museums noch einmal an sich erleben, wenn er sich wieder in die Spirale von Marina Apollonio wagt.
„Vertigo. Op Art und eine Geschichte des Schwindels 1520 bis 1970“, Kunstmuseum Stuttgart bis 23.8.2020, Katalog 207 Seiten, 28 Euro