Es war die vielleicht größte und folgenreichste Revolution in der Kunstgeschichte: Vor 100 Jahren montierte Marcel Duchamps ein ganz gewöhnliches Fahrrad auf einen Hocker und erklärte es zum Kunstwerk. Der Alltag zog in die Welt der Kunst ein, die Trennung zwischen Leben und Kunst war aufgehoben, alles konnte Kunst werden. Die Dadaisten machten daraus geradezu ein Spiel. In diese historische Reihe gehört auch der Schwede Jacob Ivar Dahlgren. Er holt sich die Materialien zu seinen Arbeiten aus dem Baumarkt oder auch aus seinem Kleiderschrank und mit ihnen auch die Inspirationen und zeigt zugleich, dass man Duchamps revolutionäre Tat noch weiterführen kann, was jetzt im Museum Ritter in Waldenbuch nachvollzogen werden kann.
Eine ganze Ausstellungswand besteht aus abstrakten, geometrisch-konstruktivistischen Bildern. Hauptausdrucksmittel: farbige Streifen, waagerecht übereinander gelegt, mal breiter, mal schmaler, mal unterschiedlich breit. Peinture Abstraite nennt Dahlgren das – Abstrakte Malerei, und damit scheint alles gesagt. Aber es scheint nur, wie so oft bei diesem Künstler. Denn zum einen handelt es sich nicht um Malerei: Dahlgren hat die Blätter am Computer kreiert und dann ausgedruckt. Und zum zweiten ist es nicht abstrakt, vielmehr so gegenständlich, wie es gegenständlicher kaum mehr geht, denn im Grunde handelt es sich hier um normale T-Shirts. Dahlgren hat die Muster einiger solcher Shirts am Computer nachgezeichnet.
Dahlgren liebt diese Kleidungsstück von früher Jugend an und hat in seinem Kleiderschrank mittlerweile weit über tausend Stück, die er auch trägt, wie er mit Fotos belegt. Dahlgren hat den Alltag in die Kunst gebracht, das reiht ihn natürlich ein in die von Duchamps begründete Kunsttradition, und doch ist etwas völlig Eigenes entstanden, denn Dahlgren bedient sich nicht einfach alltäglicher Gegenstände, er überführt Leben in Kunst.
Dasselbe gelingt ihm mit Bleistiften. Er hat sie zu Blöcken zusammengeleimt, und jetzt ragen die Stifte in unterschiedlicher Länge von der Wand hervor. Aus einem Alltagsgegenstand wurde eine Skulptur. Mit Fuchsschwänzen gelang ihm eine Art skulpturales Gemälde. Er ordnete sie kreisförmig an. Jede Säge ist erkennbar und doch sind die Sägen insgesamt zu einem völlig neuen, rein ästhetischen Gebilde geworden, dem man gleichwohl die Alltäglichkeit und Nutzmöglichkeit immer noch ansieht.
Wie sehr bei ihm die Welt der Gegenstände, das eigene Ich und sein Tun zur Einheit verschmelzen, zeigt eine ganze Wand, auf die er lauter handelsübliche Dartscheiben appliziert hat. Die zu den Scheiben mitgelieferten Darts überantwortet er den Besuchern der Ausstellung, die die Scheiben damit bewerfen und somit kontinuierlich an dem Kunstwerk weiterarbeiten dürfen – ein Work in Progress, doch nicht durch den Künstler, denn der hat nur die kreative Situation dafür geschaffen. Zugleich verweist Dahlgren spielerisch auf die Kunstgeschichte, denn dieses durch die Aktion der Besucher entstehende/entstandene „Bild“ ist eine neue Form des von Jackson Pollock erfundenen Action Painting.
Bei Dahlgren entsteht Kunst durch die Interaktion von Menschen mit Dingen. So hat er sich eine Woche lang in T-Shirts an einer Meeresküste fotografieren lassen, wobei er uns den Rücken zuwendet und sich so platziert hat, dass ein blauer Streifen des Shirts exakt mit der Meereshorizontlinie eins wird. Der Mensch wird zum Meer: I Sea, was zugleich ein hübsches Wortspiel ist, denn anders geschrieben – I see –, aber gleich ausgesprochen beschreibt der Titel genau das, was Dahlgren auf den Fotos macht: Er blickt auf das Meer hinaus – er sieht – und wird zugleich zum Meer.
Dahlgren zwingt zum Nachdenken, zum Mitdenken, zum Umdenken. Sei es seine Form des Action Painting, sei es sein Umgang mit Readymades, sei es sein Spiel mit Konventionen der Kunstgeschichte, in der jahrhundertelang das Unikat das Wesentliche war. Bei ihm ist das Wesentliche die Masse. Aus ihr macht Dahlgren ein Unikat – und bringt die alte Diskussion um das Singuläre in der Kunst ins Wanken.
Kunst und Leben, jahrhundertelang strikt voneinander geschieden, kommen bei ihm zur Deckung. Frei nach Ludwig XIV., der behauptet hatte: L’état c’est moi, sagt Dahlgren La vie c’est l’art.
„Quality through quantity. Jacob Dahlgren“. Museum Ritter, Waldenbuch, bis 8.4.2018, Katalog 40 Seiten