Es ist ein Kreuz mit dieser Oper. Die Dialoge um den Edelmann Belmonte, der seine von Türken entführte geliebte Konstanze sucht – und behütet von seinem Diener Pedrillo findet – sind von rührender Naivität, und dann auch noch meist von Sängern vorgetragen, die zwar singen können, deren Sprechen aber an Laiendarsteller gemahnt. Nur wenn die Musik erklingt, ist der Opernfrieden gewahrt. So möchte man am liebsten die Dialoge auf ein Minimum zusammenstreichen – hätte dann aber das Singspiel verfehlt. So etwa mag es sich der Regisseur Hans Neuenfels gedacht haben – und besetzte 1998 an der Oper Stuttgart flugs doppelt: Den fünf Sängern gab er fünf Schauspieler an die Seite.
Matthias Klink, Alexander Bogner. Standbild aus der Videoproduktion
Zunächst ist von dieser Doppelung allerdings nichts zu bemerken. Wenn Belmonte gleich nach der Ouvertüre seiner Sehnsucht nach Konstanze sängerisch Ausdruck verleiht, sehen wir nur den Tenor Matthias Klink. Doch alsbald erhebt sich hinter ihm ein zweiter, identisch gekleideter Belmonte, der Schauspieler Alexander Bogner, und vollführt exakt dieselben Bewegungen – eine gestische Synchronisation. Weil aber auch die Sänger durchaus schauspielerische Qualitäten besitzen, wurde unversehens mehr daraus. Die Doppelgänger geraten in ein Spiel miteinander. Droht der Sänger-Belmonte in Wut zu geraten, fällt ihm der Schauspieler-Belmonte in die Parade und fordert ihn auf, sich zu beruhigen, wofür dieser ihm nach einer kurzen Bedenkpause dankt. So entsteht gewissermaßen ein Dialog zwischen zwei Seiten einer Figur.
Andreas Grötzinger, Roland Bracht. Standbild aus der Videoproduktion
Osmin, der Diener des Bassa Selim, in dessen Gewalt Konstanze, ihre Zofe Blonde und Diener Pedrillo geraten sind, meint in seiner Wut auf Pedrillo diesen am Kragen zu fassen, drückt aber statt dessen seinem Doppelgänger den Nacken kräftig zusammen, was in diesem Mordgelüste aufkommen lässt. Es ergibt sich auch ein amüsantes Spiel mit der Bühnenrealität. Kaum ist Pedrillo 1 – der Sänger – allein auf der Bühne, atmet er auf, endlich seinen Doppelgänger los zu sein. An anderer Stelle souffliert der Schauspieler-Pedrillo dem Sänger seinen nächsten Satz. So werden die Figuren vielschichtiger als im Libretto von Mozarts Oper angelegt. Zugleich macht Neuenfels stets deutlich, dass alles, was hier stattfindet, nichts als Theater ist. So fordert der Sänger den Dirigenten auch mal auf, ihn zur Arie zu begleiten; als Bassa Selim sich der Schauspieler-Konstanze als Exhibitionist aufdrängt, ruft diese verzweifelt ihre Kollegin zur Hilfe: „Sing“, denn während in der Oper gesungen wird, steht die Handlung in der Regel still.
Catherine Naglestad, Emanuela von Frankenberg, Johannes Terne. Standbild aus der Videoproduktion
Und Bassa Selim weiß irgendwann nicht, welcher Dame er die Hand küssen soll und schiebt dann in seiner Verzweiflung den Kopf zwischen die Hände beider Konstanzes. Und wenn – wie im Finale des zweiten Akts – die Handlung stillsteht, dann lässt Neuenfels das Orchester aus dem Graben hochfahren und den Rest zwischen Sängern und Orchester ausmachen, konzertant gewissermaßen – eine konsequente Weiterführung des musikalischen Geschehens. Auf diese Weise findet auf der Bühne ständig eine Interpretation dessen vor, was im Gesang geschieht. Wenn Blonde Osmin klarmacht, wie man sich einer Dame nähert, dann führen es ihm die beiden Pedrillos vor – und Osmin lernt schnell, wenn auch unbeholfen: er legt der Dame die Stola nicht um die Schultern, sondern bindet sie ihr als Schürze vor den Leib. Konsequent bis in Details lotet Neuenfels dieses Doppelspiel aus, entdeckt in Blonde und Pedrillo Vorgänger von Papageno und Papagena – und lässt sie kurz als Vogelgeschöpfe auftreten – mit lauter kleinen Papagenos und -nas. Aber auch für Ernst ist gesorgt, schließlich ist diese Oper nah am Tod angesiedelt. Dieser Bassa Selim ist keineswegs ein edler Humanist, sondern durchaus auch Gewaltherrscher, und wenn alles vorbei ist, rezitiert er ein Memento mori von Mörike. So ist aus dem anfänglichen Spiel der Doppelung der Figuren ein subtiles Persönlichkeitsdrama entstanden, in dem es eben nicht nur um Double und Synchronisation geht, sondern auch um Phänomene wie dem Visavis, dem Doppelgänger, dem alter ego, der Frage nach dem „wer bin ich“, dem der Philosoph Richard David Precht in seinem Erfolgsbuch 2007 die dazu passende Frage hinzugefügt hat: Wenn ja, wie viele? Neuenfels hat das schon zehn Jahre davor für die Bühne souverän inszeniert. Hätte Catherine Naglestad als Konstanze nicht auch noch Koloraturen zu singen, wäre auch gesanglich alles bestens; eine koloraturengeläufige Gurgel hat sie nicht, dafür die entsprechende Intensität in den lyrischen Passagen. Auch Matthias Klink gerät bei den heiklen Koloraturen des Belmonte an Grenzen. So bleibt das reine Mozartglück beim Osmin von Roland Bracht, vor allem beim Pedrillo von Heinz Göhrig – und bei Lothar Zagrosek, der am Pult alle Details liebevoll herausarbeitet und dabei stets die große Linie im Auge hat. Wolfgang Amadeus Mozart, Die Entführung aus dem Serail. Als Streaming on demand auf der Homepage der Oper Stuttgart bis 26.12.2020, darüber hinaus als DVD erhältlich