Es scheint in der bildenden Kunst kaum etwas Gegensätzlicheres zu geben als Landschaftsbild und abstrakte Malerei, eine ganz auf die Natur und ihre Bestandteile konzentrierte Gestaltung und das freie Spiel der Formen und Farben, und doch gibt es durchaus auch Annäherungen, vielleicht sogar Synthesen. So ist ein breiter brauner Querbalken in der unteren Bildhälfte und ein blauer darüber eine abstrakt-konstruktivistische Komposition, wird aber unversehens vom Auge als Landschaft wahrgenommen. Ein ganz anderes Widerspiel von Abstraktion und Landschaft findet sich im Schaffen der Graphikerin Brigitte Wagner.
In winterlicher Landschaft, 1965
Hellsichtig hat der Kunsthistoriker Kai Hohenfeld, einer der besten Kenner zumindest von Brigitte Wagners zeichnerischem Werk, in einem Bild von 1965 am unteren Bildrand eine Figur ausgemacht. Sie ist kaum erkennbar, eigentlich nur eine Andeutung aus wenigen eckigen Strichen, unwichtig im Vergleich mit dem Rest des Bildes, einer Winterlandschaft, zudem scheint sie, so Hohenfeld, gerade im Begriff, diese Bildwelt zu verlassen – für ihn ein symbolisches Bild, denn fortan wird man auf ihren Bildern zwar fast durchweg Landschaften finde, jedoch keine Menschen mehr, auch nicht Relikte von deren Tun. Wenn Brigitte Wagner auf dem Bild einer Mondnacht eine kleine Hütte ins Zentrum setzt, so wirkt das nicht wie eine Behausung von Menschen, sondern eher wie ein Zeichen der Verlassenheit, wie überhaupt das ganze Bild unter dem fahlen kleinen Kreis des Mondes etwas Melancholisches, vielleicht sogar schmerzlich Einsames ausdrückt.
Das kennzeichnet viele ihrer Bilder. Die Anregungen holt sie sich aus der Realität, auf Wanderungen, dem intensiven Kontakt mit der Natur. Doch die dann entstehenden Bilder gehen weit über das Gesehene hinaus. Ihre Riedlandschaft verdankt ihre Entstehung sicher der konkreten Erfahrung eines Rieds mit seiner kargen Vegetation, wirkt aber zugleich wie eine Traum-, vielleicht sogar Alptraumwelt.
Steinbruch II, 1970
Für ihr Bild Steinbruch hatte sie sicher ein reales Abbruchwerk vor Augen, doch was sie mit wenigen Strichen zu Papier brachte, ist genau genommen eine abstrakte Radierung aus wenigen Linien und großen weißen Flächen und nicht das konkrete Porträt von Gesteinsschichten. Gerade diese Radierung zeigt, wie weit sich Brigitte Wagner bei der Ausgestaltung ihrer Graphiken von der Realität entfernt und vor allem in der Arbeit an der harten Radierplatte in den Bereich reiner Kunst begibt. Die im Titel angegebenen realen Phänomene sind Ausgangspunkt, das Ergebnis führt weit hinein in das Spannungsfeld zwischen Realität und Abstraktion.
Und sie kennt genau die unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten ihres Instrumentariums. Die Kaltnadelradierung dient oft der kühlen Abstraktion. Hier spielt das frei gelassene Papier in einer wohlabgestimmten Komposition mit den kargen Linien ebenso am Gesamteindruck mit wie die Linie selbst. Ganz anders ihre Kreidezeichnungen, in denen sie mit dem graphischen Material geradezu malerische Wirkungen erzielt – die allerdings auch in den erwähnten Radierungen nicht fehlen. Hier „malt“ sie eben mit dem Weiß des Papiers, das zugleich geradezu plastische Züge annehmen kann.
Ähnlich spannungsvoll sind die Arbeiten, die sich der Anregung durch Fundstücke im Wald verdanken, knorrigen Ästen. Auf dem Zeichenblatt werden sie zu Chiffren für das Leben – für Verletzungen, für Durchhaltewillen, für Vernichtung, für Weiterleben.
In den 90er Jahren entdeckte sie den kurzen Strich für ihre Gestaltungen. Damit gelangen ihr mithilfe eines rein abstrakten, nichts mehr porträtierenden Zeichenelements die Gestaltung ganzer Landschaftswelten, die sich eher am Pol der Ungegenständlichkeit bewegen und doch immer wieder im Betrachter den Eindruck von landschaftlicher Körperlichkeit erwecken, denn das sind ihre Landschaftsbilder in vielen Fällen – Landschaftskörper –, und immer wieder entdeckt man in diesen Landschaften sogar Anklänge an menschliche Körper.
Das sind Zeichnungen, die sich erst im Arbeitsprozess aus kleinsten Bestandteilen, einer Vielzahl kurzer Striche, ergeben. So wie sich, Heinrich von Kleist zufolge, die Gedanken erst allmählich beim Reden verfertigen, so entwickeln sich hier die Zeichnungen erst im Umgang mit den Strichen.
Melancholie und Eros, Nr. 12, 1999
Dass diese aus den Landschaftsformen herkommenden Bilder den Obertitel Melancholie und Eros tragen, ist nur konsequent – und sie zeigen, dass der Mensch, auch wenn er nie sichtbar ist auf ihren Arbeiten, doch irgendwie vorhanden ist, und sei es ganz verborgen im Körper der Landschaft. So spricht Kai Hohenfeld bei Blättern wie Steinbruch oder der winterlichen Landschaft denn auch bezeichnenderweise angesichts ihrer knappen Linien von Äderungen, als spreche er von einem menschlichen Körper. Und so wohnt doch vielen dieser so menschenleeren Landschaftsbildern oft auch etwas zutiefst körperhaft Menschliches inne.
„Brigitte Wagner – Werkschau“. Zehntscheuer Balingen bis 25.10.2020