Künstlich und natürlich sind diametrale Gegensätze, Kunst und Natur dagegen müssen es nicht sein. Tausende von Jahren diente Stein den Bildhauern als Material, in unserer Zeit haben weitere Naturmaterialien in die Kunst Eingang gefunden; Künstler wie Herman de Vries oder Wolfgang Laib gar arbeiten ausschließlich mit solchen Stoffen, der eine mit Pflanzen und Erde, der andere mit Blütenstaub. Auch der Schweizer Flavio Paolucci sucht sich seine Ausgangsstoffe in der Natur, fand aber zu einer ganz eigenen Art der Synthese von Kunst und Natur und auch von künstlich und natürlich, wie eine Ausstellung im Museum Art.Plus in Donaueschingen zeigt.
Objekt heißt diese Arbeit schlicht – Oggetto -, und sie könnte eine rein abstrakte Installation sein: ein Trennstab in der Mitte, links und rechts oben zwei runde Scheiben, wäre der Stab in der Mitte nicht eindeutig ein Stück Natur, ein wie gedrechselt wirkender Holzstab, der doch unverkennbar naturhaft gewachsen ist. Es ist eine charakteristische Arbeit für Flavio Paolucci. Seit Jahrzehnten spannt er Natur und künstlich Gemachtes zusammen. Im selben Raum wie dieses Objekt aus dem Jahr 1990 finden sich noch mehrere Astobjekte: Bei einer seiner neuesten Arbeiten windet sich ein Ast schlängelnd aus einem kleinen grün angemalten Hausobjekt, ein anderes Mal ist es eine unregelmäßig gewachsene Astgabel, an der ein Messingstab lehnt. Und stets sind es kahle Äste, sie wirken wie abgestorben; nur hin und wieder hängt ein einzelnes vertrocknetes Blatt an ihnen. Aber Vorsicht! Ganz so eindeutig ist es nicht immer. Die beiden letzten Astobjekte sind aus Bronze. Allerdings stand auch hier am Anfang die Natur Pate, die Zweige wurden nach ihr in Bronze gegossen.
Paolucci treibt ein subtiles Spiel mit den Polen Natur und Kunst, natürlich und künstlich. Nie schafft er einfach nur Naturobjekte, stets bindet er sie in hochgradig abstrakte Konstruktionen ein. Da findet sich beispielsweise immer wieder das Spiel mit physikalischen Kräften. So steht auf einem Sockel ein eiförmiges Gebilde. Von diesem Ei verlaufen streng symmetrisch Schnüre durch zwei Haken an der Wand. Das ist ein Spiel mit der Schwerkraft nach unten, denn das Ei bleibt auf dem Sockel, muss also schwer sein, und Zugkräften nach oben, denn die Seile sind straff gespannt. Bei Paolucci finden sich immer wieder gegensätzliche Spannungskräfte. Spannung – Tensione – heißen denn seine Arbeiten nicht selten.
Bei einer hat er zwei Holzstäbe um ein Holzgebilde gespannt – die Stäbe scheinen das Gebilde in der Mitte zusammenzudrücken, das Gebilde wiederum scheint die Holzstäbe zum Bersten bringen zu wollen – Zusammenpressen und Auseinanderdrücken sind hier die Kräfte, die am Werk sind.
Eine andere Arbeit scheint sich mit dem Kontrast von zweidimensionalem Bild und dreidimensionalem Relief zu befassen. Zu sehen ist zentral ein großer Bilderrahmen, der freilich weitgehend leer belassen ist. Lediglich ein Stab spannt sich diagonal zischen zwei Ecken, als wolle er das Bild ausmessen.
In der oberen rechten Ecke findet sich dann das „Bild“, eine unregelmäßige schwarze Fläche, die exakt spiegelbildlich durch eine Glasscheibe ergänzt wird, die außerhalb des Bildrahmens über dem Ganzen schwebt. Wie immer regt auch diese Arbeit zum Reflektieren an: Was ist ein Bild, wo befinden sich seine Grenzen, was geschieht mit dem Raum um ein Bild herum?
Noch ein Bild gibt es in der Ausstellung, auch dieses besteht im Wesentlichen aus einem Bilderrahmen. Bildinhalt ist hier eine einzige dünne schwarze Linie von oben nach unten, die sich, oh Wunder, unter dem Bildrahmen fortsetzt in Gestalt eines realen Fadens, an dem eine Balancierstange hängt, wie sie Seiltänzer benutzen. Die Arbeit heißt denn auch: Das Seil des Akrobaten.
Humor findet sich allenthalben bei Paolucci. So gibt es eine zärtliche Annäherung zwischen einem Ast und einem Stamm, – Der Zweig umarmt den Stamm – und wieder bestehen die so naturecht aussehenden Gebilde aus Bronze.
Dabei empfindet der Künstler eine tiefe Zuneigung zur Natur. Wenn er Flächen oder Holzstücke schwarz einfärbt, dann nimmt er dafür den Ruß, den er in den offenen Kaminen in den Häusern seiner Heimat Tessin gesammelt hat. Und auch symbolisch spielt die Natur stets eine wichtige Rolle. Die Sonne zum Beispiel ist ein zentrales Element in seinem Schaffen, dargestellt als glänzende Messingscheibe oder als roter gemalter Ball. In letzterem Fall verneigt sich der Ast vor der Sonne, so als wolle er ihr seine Dankbarkeit erweisen, dass er durch sie überhaupt wachsen durfte. Und wie kraftvoll Natur ist, zeigt die erwähnte Arbeit, bei der ein Ast aus einem Haus herauswächst; die Natur, so verrät der Titel, kenne keine Grenzen, sie lässt sich nicht einsperren in ein von Menschenhand geschaffenes künstliches Gebäude.
Das alles findet sich aber in Kunstwerken, die trotz aller Naturnähe stets künstlich konstruiert sind – Natur und Konstruktivismus, auch das kann eine Einheit sein.
„Flavio Paolucci“, Museum Art.Plus, Donaueschingen bis 10.10.2021