Es gab in der Malerei des 20. Jahrhunderts viele Wege in die Abstraktion, präziser: die ungegenständliche Kunst. 1915 präsentierte Kasimir Malewitsch revolutionär nichts als ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund, wenige Jahre danach befand Theo van Doesburg, nur Linie, Farbe und Fläche seien die wesentlichen Elemente der Malerei. Andere Künstler gingen von der gegenständlichen Malerei aus und fanden zur Überwindung des Gegenstands durch Abstrahierung. So etwa Adolf Hölzel, der von 1905 an als Professor an der Stuttgarter Kunstakademie die Gesetzmäßigkeiten von Farbe, Linie und Form analysierte und seinen Schülern beibrachte. Von ihm ausgehend versucht nun das Kunstmuseum Reutlingen „zwei Entwicklungslinien der Kunstgeschichte nachzuzeichnen“, die von der auf der „Figur basierenden gegenständlichen Kunst über die Abstraktion zur ungegenständlichen Kunst führen“, so der zentrale Satz eines einführenden Wandtextes.
Das scheint bei der von Hölzel ausgehenden Linie vergleichsweise einfach, schließlich scharte er an der Akademie begeisterte Schüler um sich, was gern als „Hölzel-Kreis“ bezeichnet wird, ein Begriff, der freilich heikel ist, wird darunter doch beispielsweise auch Willi Baumeister subsumiert, der sich nämlich, wie ein in der Ausstellung ausliegender Text zeigt, dagegen verwahrte, als Hölzel-Schüler angesehen zu werden. Gleichwohl erhielt er von Hölzel sicherlich wesentliche Impulse.
Sehr viel näher an Hölzels persönlicher Handschrift waren die eigentlichen Schüler, und das lässt sich in der Ausstellung vorzüglich nachvollziehen, denn Hölzel, der in der südwestdeutschen Kunstgeschichte oft mehr als Lehrer denn als Künstler wahrgenommen wird, ist gut vertreten mit Figurenkompositionen, die seinen figürlichen Ausgangspunkt verraten, bis hin zu rein abstrakten Farb-Formkompositionen, denen er freilich, wie um zu zeigen, das sie durch Abstrahierung entstanden sind, inhaltliche Titel wie Anbetung gab.
Die Farbpalette Hölzels scheint sein Schüler William Straube aufgenommen zu haben, der freilich mit Varietészenen noch sehr dem gegenständlichen Inhalt verpflichtet blieb. Ida Kerkovius griff Hölzels theoretische Untersuchungen zum Miteinander abstrakter Formen auf. Gottfried Graf scheint sich dagegen eher in Richtung kristallin-spitzer Formen entwickelt zu haben, aber auch hierfür fand der Kurator der Ausstellung eine Arbeit von Hölzel, die Verwandtschaften zum Lehrer zumindest ahnen lassen.
Hier freilich enden die augenfälligen Verwandtschaften. Was Willi Baumeisters faszinierende Komposition Montaru aus den 50er-Jahren mit dem daneben hängenden, von dynamischen Kreisbewegungen geprägten Bild von Hölzel zu tun haben soll, bleibt unerfindlich.
Noch unerfindlicher, inwieweit ein auch daneben hängender Farbholzschnitt von Ernst Wilhelm Nay aus den 50er-Jahren damit Ähnlichkeiten aufweisen soll, denn hier ist zwar auch Dynamik im Spiel, doch eine ganz andere als auf dem Bild von Hölzel. Nay, Jahrgang 1902, mag zwar das eine oder andere Bild von Hölzel gesehen haben, doch hat er nichts mit dessen Stuttgarter Wirken zu tun und entwickelte seine ganz eigene Ästhetik aus ganz anderen Quellen.
Er hatte allerdings auch nicht, und damit sind wir beim zweiten, sehr viel problematischeren Ausstellungsteil, mit der Entwicklungslinie zu tun, die die Ausstellung von Wassily Kandinsky zur Abstraktion ziehen will. Der Wandtext spricht allgemein von Künstlern, die den Almanach Der Blaue Reiter herausbrachten, doch von diesen ist nur Kandinsky mit einer Arbeit vertreten. Kühn, wenn der Text dann vom Blauen Reiter eine Brücke zum Bauhaus schlagen will, das keine Kunstakademie war und sich auch nicht unbedingt durch den Übergang von der auf der „Figur basierenden gegenständlichen Kunst über die Abstraktion zur ungegenständlichen Kunst“ auszeichnete. Kandinsky war zwar Lehrer am Bauhaus, aber das waren auch ein Moholy-Nagy, dessen Licht- und Fotoexperimente nichts mit dem Meister der abstrakten Malerei zu tun haben, sowie vor allem auch Designer und Architekten.
Insofern mag es noch nachvollziehbar sein, wenn in dieser Ausstellungsabteilung auch zwei Graphiken von Josef Albers zu sehen sind, gleichfalls Lehrer am Bauhaus, doch dessen Ästhetik hat nichts mit der Kandinskys zu tun – erst recht nicht die von südostasiatischer Philosophie inspirierte eines Julius Bissier, der weder mit Kandinsky noch mit dem Bauhaus und auch nicht mit dem Hölzel-Kreis zu tun hatte. Er mag zwar Hölzel-Bilder gekannt haben und in seinen Anfängen von der gegenständlichen Welt ausgegangen sein, doch das gilt für viele Künstler seiner Zeit.
Wenn in der Ausstellung dann neben den genannten Künstlern jeweils ein Bild von Hölzel zu finden ist, das möglicherweise in dem einen oder anderen Detail Ähnlichkeiten zu den Bildern von Albers oder Bissier erkennen lässt, dann muss sich der Besucher fragen, ob hier Verwandtschaften, gar Einflussnahmen behauptet werden sollen, was kunsthistorisch äußerst fragwürdig wäre. Doch der Eindruck drängt sich auf, zumal der Besucher in dieser Ausstellung mit derart komplexen Fragestellungen völlig allein gelassen ist. Namen wie Bissier, Fleischmann, Graf sind heute allenfalls noch Kennern vertraut, hier begegnet der Ausstellungsbesucher ihnen ohne jeden auch nur biografischen Hinweis. Auch muss er wissen, wer alles zum Hölzel-Kreis gehörte, um die vage Zweiteilung der Ausstellung – hie Hölzel etc., da Blauer Reiter etc. – nachvollziehen zu können. Da Hölzel überall vertreten ist, selbst neben Kandinsky, kann nur Verwirrung aufkommen, eine kunsthistorisch höchst gefährliche Assoziationstätigkeit.
Wer einige faszinierende Kunstwerke sehen will, wird hier gut bedient, doch Spekulationen über irgendwelche Blicke ob auf Hölzel oder auf andere Künstler sollte man tunlichst unterlassen.
„Mit Blick auf Adolf Hölzel. Figur und Abstraktion“, Kunstmuseum Reutlingen bis 5.2.2023