Wo das Wissen an seine Grenze kommt, wo die Wissenschaft so theoretisch oder gar hypothetisch wird, dass sie dem „Normalsterblichen“ keinerlei Anschauung mehr vermittelt, da könnte die Stunde der Kunst schlagen, denn sie vermag Phänomene aufleuchten zu lassen, die sich dem rationalen Zugriff entziehen. Eine Ausstellung in der Städtischen Galerie in Schwenningen stellt diese Hypothese nun in Frage. Sie versucht aufzuzeigen, was Kunst und Wissenschaft gemeinsam haben könnten.
Es beginnt im Erdgeschoss mit der Wissenschaft. Sebastian Marokko Walter ist studierter Biologe und Psychologie, und was er im Erdgeschoss der Schwenninger Galerie präsentiert, ist eine Art Laborsituation, in der der Besucher das erkunden kann, was er in der Auseinandersetzung mit bildender Kunst in diesem Haus am intensivsten nutzt: den Sehsinn. Walter zeigt Diagramme der Prozesse, die im Gehirn beim Sehen ablaufen, er ermöglicht Blicke durch das Mikroskop, und er führt in die Geheimnisse der Chromosomen ein. Am Ende führt er plastisch vor, wie komplex das ist, das wir im Alltag für das Normalste von der Welt halten: das Sehen von Farben. Meinen wir, eindeutig Rot, Blau oder Grün erkennen zu können, zeigt er uns, dass all dies im Gehirn erst am Ende eines – allerdings blitzschnell ablaufenden – Prozesses steht, in dem das Gehirn unablässig Hypothesen über das aufstellt, was ihm vom Auge an Impulsen übermittelt wird. Eindeutige Sicherheit, so scheint es, gibt es für unser Denkorgan nicht, alles ist ständiger Revision unterworfen.
Mit dieser Erkenntnis kann der Ausstellungsbesucher sich dem „künstlerischen“ Teil dieser Doppelausstellung nähern, den Bildern von Florian Haller. Und siehe da: Hier wiederholt sich das Spiel der unablässigen Hypothesen. Auf den ersten Blick meint man, mit Hallers Bildern schnell fertig zu werden. Da gibt es abstrakte Arbeiten mit streng geometrischen Formen –
Dreiecken, Kreuzen, Quadraten, doch die Ordnung, die sich bei solchen Bildelementen zunächst einstellen will, wird von Haller durch kleine Irregularitäten immer wieder gestört, bis man am Ende kaum mehr weiß: Ist dies nun ein Bild, das der geometrischen konstruktivistischen Kunst zuzurechnen ist – oder der mit der Augentäuschung arbeitenden OpArt.
Bei Hallers Bildern meint man zu wissen, was man vor sich hat, um nach wenigen Minuten bereits in völlige Unsicherheit über das Gesehene zu geraten.
Ein Bild scheint vier Personen auf einer Bank darzustellen. Doch schon diese Zuordnung erweist sich als falsch. Das, was wie eine Rückenlehne einer Bank wirkt, entpuppt sich als rein ornamentales Liniengeflecht, die Figuren lehnen sich nicht daran – es sind nicht einmal richtige Figuren. Die Gesichter sind reine ovale Flecke in Hautfarbe, die Kleider plakative bunte Flächen, in denen man Blusen und Röcke erkennen mag, aber nicht muss. Vordergrund und Hintergrund wechseln einander bei längerer Betrachtung und wechselndem Licht ständig ab.
Wenn eine Aufgabe von Kunst darin besteht, unser Alltagsbewusstsein in Frage zu stellen, dann sind Hallers Bilder Kunst par excellence.
Doch ein Gang zurück in den biologisch-wissenschaftlichen Teil der Doppelausstellung ist nicht geeignet, unserem erschütterten Selbstbewusstsein in Sachen Wahrnehmung wieder Sicherheit zu geben, denn auch die Wissenschaft macht deutlich, dass Sehen kein klares Abbildungsverhältnis zwischen Objekt und Auge ist – und dass der Biologe Walter eben nicht nur Wissenschaftler ist, sondern auch ausgebildeter Künstler.
So erweist sich seine von auf den ersten Blick wissenschaftlichen Erkenntnissen geleitete Ausstellung in mehreren Räumen als Lichtinstallation, die für den Nichtfachmann und Kunstfreund ein reiner Augenschmaus ist. Wissenschaft und Kunst, so scheint es, sind einander näher verwandt, als man auf den ersten Blick meinen mag.
Zeitraum
„Florian Haller/Sebastian Marokko Walter“, Städtische Galerie Villingen-Schwenningen, Friedrich-Ebert-Straße 35, bis 24.4.2016
zu dieser Ausstellung findet sich ein Film von Horst Simschek und mir auf Youtube