Kunst zwischen den Dimensionen: Wolfgang Flad im Kunstmuseum Albstadt
Das Grundelement der Zeichnung ist die Linie – Inbegriff der Zweidimensionalität, die sich allenfalls durch Schraffur zur Fläche ausweiten kann, es sei denn, die Farbe ist mit dem Pinsel aufgetragen. Dann freilich ist der Übergang zur Malerei nicht weit, die sogar Räumlichkeit andeuten kann, wenn auch nur virtuell. Auch sie gehört zur flachen Kunst. Die Skulptur dagegen greift in den Raum, sie ist dem Körperlichen nahe. Bei Wolfgang Flad, dem das Kunstmuseum in Albstadt jetzt eine Ausstellung widmet, sind derlei Grenzziehungen freilich fragwürdig: Kunst zwischen den Dimensionen.
Ihr Alter kann mehrere tausend Jahre betragen, in der Größe variieren sie von wenigen Millimetern bis zu mehreren Metern – Schwämme, Lebewesen im Meer, die dem Taucher wie optische Wunder vorkommen – dem Taucher oder derzeit auch dem Besucher des Kunstmuseums Albstadt. Da stehen zwei farbige Gebilde wie aus einer anderen Welt vor dem Betrachter, und er meint, sie würden im nächsten Augenblick anfangen, sanft in den Wellenbewegungen des Meerwassers hin und her zu schwingen. Leicht genug wären sie, Wolfgang Flad baut seine Arbeiten aus dünnen Holzlatten und Pappmaché und bemalt sie dann, was den Objekten eine weiche, fast lebendig wirkende Oberfläche verleiht. Kein Wunder, dass man bei einer Arbeit eher den Eindruck einer dünnen, verzweigten Wasserpflanze, einer langen Alge hat, nicht aber den einer soliden Plastik. Das aber sind diese Objekte aus kunsthistorischer Sicht, deren Zuordnung dem Betrachter freilich einige Probleme aufgibt.
Es ist nicht nur der sonderbare Gegensatz von scheinbarer Leichtigkeit und solider Form, wenn Flads Kunstobjekte vor einem auf Sockeln ruhen oder sich vom Boden bis zur Decke zu spannen scheinen. Es ist auch der Gegensatz von Dichte und Transparenz, der das Auge verwirrt, denn Flads Arbeiten in der Albstädter Ausstellung wirken zwar wie dreidimensionale solide Skulpturen, Arbeiten aus massiven Materialien, zugleich aber auch wie Objekte konstruiert aus lauter Luft, genauer gesagt, aus lauter Röhren, was durchaus der Wahrheit entspricht, denn Flad verwendet gern Alltagsmaterialien wie Pappröhren, wie man sie von Toilettenpapierrollen her kennt.
Und damit sind wir beim dritten verwirrenden Aspekt dieser Arbeiten: Sie scheinen nicht von Menschenhand gemacht, sondern fremden Gesetzen gemäß gewachsen. Xylem nennt Flad diese Objekte, er arbeitet gern in Serien, daher finden sich in der Albstädter Ausstellung gleich zwei Beispiele dieser – man möchte fast sagen: Spezies der sonderbaren Unterwasserpflanzen. Xylem ist ein Begriff aus der Biologie und bezeichnet das Gefäßsystem von Pflanzen – Natur also, und doch bestehen die Xylem-Arbeiten von Wolfgang Flad aus vertrauten Materialien: Holzlatten, nicht selten zersägten früheren Arbeiten des Künstlers, die er neu zusammengesetzt hat, umwickelt von Pappmaché. Das verleiht ihnen den weichen, leichten und vor allem organischen Charakter.
Wolfgang Flads Arbeiten entziehen sich der genauen Festlegung. Das gilt auch für seine Arbeiten mit dem Titel Fade Broom. Das weckt Assoziationen an sonderbare Gebilde, die einem Besen ähneln und offenbar dem Verschwinden von Schmutz dienen. Wir sehen an den Wandbildern elegante, mit großem Schwung gezogene Linien, wie sie von den Borsten eines Besens (englisch: broom) herrühren könnten. Ist Flad mit seinen an die Unterwasserwelt gemahnenden Objekten im Bereich der dreidimensionalen Skulptur – und seine Arbeiten laden unbedingt ein, von allen Seiten betrachtet zu werden -, so scheint er sich mit diesen Arbeiten im Bereich Zeichnung zu bewegen. Doch aus der Nähe entdeckt man ein erstaunliches Tiefenleben. Es handelt sich um dicke Schichthölzer, in die Flad mit einer Holzfräse elegante geschwungene Linien eingearbeitet hat. Aus Linien werden Rillen, aus einem gezeichneten Bild wird ein dreidimensionales Relief, das die einzelnen Schichten seines Ausgangsmaterials offen freilegt, ja als Gestaltungselement benutzt.
Flads Arbeiten sprengen alle in der Kunstgeschichte üblichen Grenzen – die zwischen solidem totem Material und dem Eindruck lebender Wesen, zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, und beim Betrachter den Zwiespalt zwischen ruhiger Betrachtung und dem Drang, die Objekte zu umrunden und damit gewissermaßen virtuell beweglich zu machen.
Vor allem aber spielt Flad mit den Vorstellungen uns fremder Welten. In einer dritten Serie hat er den Eindruck einer rätselhaften, menschenleeren Mondlandschaft erweckt. Hinter mehrfarbigem Glas, das je nach Perspektive seine Farbnuancen wechselt, befinden sich Reliefs mit kraterähnlichen Vertiefungen, die wie erstarrte Lava wirken – künstlich hergestellt aus Kunststoffplatten, auf die Flad Säure tropfen ließ. Und auch der Begriff menschenleer ist nicht korrekt, denn durch das Glas über diesen Kraterlandschaften spiegelt sich der Betrachter, er wird eins mit dem Kunstobjekt. So überschreitet Flad in diesen Arbeiten auch die Grenze zwischen Kunstobjekt und Betrachter.
Das wirkt hochmodern, und die Arbeiten sind ja auch in unserer unmittelbaren Gegenwart entstanden, in diesem Fall 2022 und 2023 –
und doch stehen sie in einer langen kunsthistorischen Tradition, wie die Ausstellung deutlich macht. Umgeben sind Flads Objekte von Grafiken aus der Sammlung des Albstädter Museums – und siehe da: Jenes Spiel mit der ungehinderten schöpferischen Fantasie, mit der Spontaneität, mit der Raumerfahrung, die man erlebt, wenn man mit langem Pinsel elegante Bögen auf das Papier zeichnet, findet sich schon seit Jahrzehnten in der Kunstwelt. Eugen Batz zum Beispiel hat vor knapp hundert Jahren seine eigene Art der Unterwasserwelt gestaltet – und seine Radierung einer Wasserpflanze ist den Xylem-Objekten von Flad gar nicht so unähnlich. Auch dies sind reine Fantasieformen.
Die informellen Arbeiten eines Hans Hartung wirken wie das zufällige Entstehen von Flächen und Linien durch Pinsel und Farbe, der momentanen Eingebung entsprungen, und doch meist Resultat langer Überlegungen. Ähnlich die Grafiken von K.R.H. Sonderborg, der für seine Vorbereitungen zu einer Grafik oft länger brauchte als zur Gestaltung derselben. Daher der Eindruck der Spontaneität und zugleich der unbedingten Notwendigkeit ihrer Gestaltung.
Die Ausstellung zeigt, wie das Werk eines Künstlers von heute gedanklich wie ein Tischtennisspiel – pingpong lautet der Titel der Ausstellung – aus der Vergangenheit von Jahrzehnten unterschiedlichster Kunstströmungen genährt und inspiriert wurde und dabei hochmodern und aktuell ist. Sie zeigt aber auch, wie ungemein lebendig und modern im Zusammenspiel mit Flads gerade erst entstandenen Arbeiten die großen Persönlichkeiten der Kunstgeschichte der letzten hundert Jahre mit ihren Werken immer noch sind.
„Wolfgang Flad – pingpong. Skulptur und Wandarbeiten im Dialog mit der Sammlung“ bis 21.1.2024. Katalog 67 Seiten