Kunstliebhaber haben es derzeit in Reutlingen nicht einfach. Die Städtische Galerie präsentiert die Südseereise, die der Maler Max Pechstein mit seiner Frau Lotte 1913 unternahm, und will das bisher gängige Bild dieser Reise zurechtrücken. Das gelingt im Katalogbuch vorzüglich, doch die Ausstellung bleibt hinter diesem Anspruch zurück und zeigt einmal mehr Pechsteins verklärtes Südseebild. Beim Kunstverein Reutlingen könnte sich der Besucher sicher wähnen. Dem Verein gelang es, mit Georg Baselitz und Albert Oehlen zwei wichtige Vertreter der Nachkriegskunst zu engagieren, doch wer bei Baselitz dessen auf dem Kopf stehende Figuren erwartet, wird enttäuscht, muss umdenken.
Vier Stöckelschuhe wirbeln über eine schwarze Bildfläche, sie stoßen in die vier Bildecken vor, die in ihnen steckenden Beine sind mit einigen Strichen vage andeutet – Georg Baselitz hat diesen Zyklus in den letzten eineinhalb Jahren gemalt und verblüfft die Betrachter mit einer geradezu feinsinnigen Malerei.
Er, der doch so gerne deftig in die Farbe gegriffen und unter dem Titel „Helden“ eher das Gegenteil von verklärten Heroen auf die Leinwand gebracht hat, erweist sich als Ästhet im Umgang mit Pinsel und Farbe – reduziert auf schwarz und weiß und wenige skizzenhafte Striche in dünnem Farbauftrag.
Und auch Albert Oehlen dürfte die eingeweihten Kunstfreunde verblüffen (die eingeweihten, denn sein Oeuvre ist längst nicht so populär wie das des sechzehn Jahre älteren Baselitz). Oehlen ging in die Kunstdebatte ein als Teil der jungen wilden Bewegung. Zusammen mit seinem Freund Martin Kippenberger schienen die alten Medien – Malerei, Zeichnung – weniger relevant als die große genialische Geste, die sich nicht zuletzt in wilden Aktionen und aufsehenerregendem Verhalten äußerte. Oehlen bezeichnete seine Malerei selbst gern als „bad painting“ und „postungegenständlich“.
Jetzt präsentiert er eine ähnlich ästhetische Malerei wie Baselitz: Magentarote große Rechtecke, über denen sich frei geschwungene schwarze Linien hinziehen, sowie Gebilde die vage an Baumäste erinnern. Von bad painting keine Spur.
Das sind von jedem Künstler sechs großformatige Gemälde, die aber jeweils nur „Variationen“ eines Bildes sind. Der Besucher des Kunstvereins ist also letztlich konfrontiert mit einer aus zwei Bildern bestehenden Ausstellung, mit der man meint, schnell fertig zu sein.
So bleibt ein Griff zum Katalog. Doch zu den Bildern der Ausstellung findet sich darin kaum etwas, dafür sehr viel zu den Anfängen dieser beiden Künstler. Christian Malycha, der Leiter des Kunstvereins, dem der Coup gelungen war, zwei bedeutende Vertreter der Nachkriegskunst in einen Verein zu holen, dessen Etat vergleichsweise gering ist, hat sich mit ihnen darüber unterhalten, wie sie seinerzeit zu dem Stil fanden, der lange Zeit als ihr Markenzeichen galt. Und diese Anfänge, wiewohl sie nur 20 Jahre auseinanderlagen, waren geradezu radikal unterschiedlich. Baselitz, in der DDR aufgewachsen, die er dann Richtung Westen verließ, sah sich als junger Künstler zwischen den Lagern Ost (sozialistischer Realismus) und West (abstrakte informelle Malerei). Er hätte eigentlich nur Epigone der einen oder anderen Richtung werden können und suchte seinen eigenen Weg, der ihn schließlich zu den Figuren auf dem Kopf führten. So rettete er für seine Malerei die Figürlichkeit, die im Westen verpönt war, und hielt zugleich Abstand vom Realismus des Ostens, indem er durch die Umkehrung der Figur den Blick des Betrachters vom Gegenstand weg auf die reine Malweise richtete.
Oehlen dagegen sah sich einer Situation ausgesetzt, in der Malerei als überholt galt – und malte gewissermaßen zerstörte Bilder, chaotisch anmutend in einer Gratwanderung zwischen abstrakten Elementen und gegenständlichen Assoziationen.
Das (freilich streckenweise allzu insiderhafte) Gespräch zeigt auf, wie schwer es in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts jungen Künstlern fallen musste, einen eigenen Weg zu finden. Doch für die aktuelle Ausstellung im Kunstverein hilft auch das nicht weiter. Hier ist der Besucher auf eigene Spekulationen angewiesen – und für die sollte er die bisherigen Karrieren dieser Künstler kennen. Dann sieht er, dass Baselitz mit seinen in alle Himmelsrichtungen strebenden Stöckelschuhen wieder Bilder aufgriff, die er kurz vor seinen auf dem Kopf stehenden Figuren gemalt hatte. Da nämlich lösten sich die Gegenstände auf seinen Bildern in Einzelteile auf und schienen auseinanderwirbeln zu wollen, so wie die Stöckelschuhe jetzt in alle Richtungen stieben. Und er zeigt, was er im Gespräch auch deutlich macht, dass er in jungen Jahren eben auch ein ästhetisch subtil zeichnender Künstler war, der gewissermaßen den Ästhetizismus seiner frühen Arbeiten ablegen musste, wollte er eine neue Bildsprache finden.
Und Oehlen, der sich in den 80er Jahren in der für einen angehenden Maler quälenden Situation befunden hatte, malen zu wollen, sich aber in einem Umfeld befand, das Bilder im traditionellen Sinn eher für obsolet hielt, führt auf seinen neuen Bildern gewissermaßen alle Möglichkeiten des Farbauftrags vor, die in der Kunst der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vorzufinden sind: von der wie mit dem Lineal gezogenen „hard edge“-Kante über die spontan über die Bildfläche ziehende informelle Linie bis zum feinen mit der Dose aufgetragenen Farbsprühnebel. So zeigen beide Künstler, dass ein Neuanfang auch nach jahrzehntelanger Karriere möglich ist, ein Neuanfang, der scheinbar in grundlegend neue Sphären aufbricht und doch auf Gedanken basiert, die diese beiden Künstler zu Beginn ihrer Laufbahn umtrieben.
Und so erweist sich ein Gang durch die Ausstellung als durchaus länger und vielschichtiger, als ein erster Blick auf die Gemälde, die sich doch sehr ähneln, vermuten ließ. Damit aber findet diese Ausstellung mehr noch als die Pechsteinpräsentation in der Städtischen Galerie vor allem im Kopf des Besuchers statt, der dafür idealerweise das Gespräch mit Christian Malycha sucht, am besten in einer Führung. Die Bilder selbst sind da dann möglicherweise nur noch der Anlass zu diesem ungleich wichtigeren Teil der Ausstellung.
„Georg Baselitz – Albert Oehlen“, Kunstverein Reutlingen, Eberhardstraße 14 bis 15. 1. 2017.