Im 16. und 17. Jahrhundert war es für Künstler nördlich der Alpen ein Muss, nach Italien zu reisen und sich an der dortigen Kunst zu schulen. Was einem Dürer und Rubens die Mittelmeerwelt war, bedeutete für die Künstler im 19. Jahrhundert Frankreich, vor allem Paris. Hier holte man sich Inspirationen von den gerade herrschenden neuen Stilen – dem Impressionismus, dem Pointillismus -, vor allem aber von einzelnen Künstlerpersönlichkeiten wie Cézanne oder van Gogh. Diesem Drang konnte sich auch der 1878 geborene Bayer Albert Weisgerber nicht entziehen. Er ließ sich anregen, kopierte auch, und entwickelte daraus einen ganz eigenen Stil.
Der Maler und die drei Grazien, 1910
Das Motiv ist traditionell: Ein Maler an der Staffelei beim Malen eines Aktbildes, in diesem Fall nicht mit einer nackten Frau, sondern gleich drei Schönen. Und doch ist es ein für 1910 durchaus modernes Bild, denn Farbe und Pinselduktus verraten eindeutig das Vorbild Cézanne. Die Szene löst sich in einzelne grobe Pinselstriche auf, die nach hinten ragende Landschaft wirkt erstaunlich flächig. Weisgerber hat sich genau umgesehen, als er sich 1903 in Paris aufhielt. Eine Szene im Biergarten verrät eine intime Kenntnis der impressionistischen Malerei, auch wenn vielleicht die Wahl der Szenerie sich seiner bayrischen Herkunft verdankt. Ein anderes Bild zeigt eindeutig den Einfluss eines Toulouse-Lautrec. Und doch sind beide Gemälde keine reinen Imitationen eines Kunststils. Weisgerber bediente sich der Pinselführung und der Palette der Vorbilder und schuf doch ganz eigenständige Kompositionen. Die Figuren wirken ausgesprochen lebendig und individuell, die beiden Herren am Biertisch im Freien sind eindeutig in ein intensives Gespräch vertieft. Und sein Porträt eines Landmanns mit einer Sense verrät den Einfluss eines Vincent van Gogh.
Solche direkten Beeinflussungen durch die Franzosen wichen aber innerhalb kurzer Zeit bloßen intensiven Anregungen. Weisgerbers Schlafender Knabe im Wald ist von der französischen Kunst seiner Zeit inspiriert, doch gelingt ihm in solchen Bildern eine faszinierende Durchdringung von Hauptmotiv und Umgebung, wie sie bei seinen Vorbildern nicht zu finden ist. Bei ihm verschmelzen zunehmend Motiv und Umfeld miteinander, sie gehen ein in eine in sich geschlossene Komposition. So huschen über den Körper des Knaben dieselben Farbflecken, die sich auch auf dem Waldboden finden. Aus einem traditionellen Motiv – Weisgerber griff gern zu traditionellen Posen, seine Figuren sind oft Schreitende oder Liegende – wird eine Malerei, die nicht mehr den Gesetzen der Realität gehorcht, sondern den inneren Farbgesetzen des jeweiligen Gemäldes.
Weisgerber blieb stets bei der gegenständlichen, und das heißt bei ihm vor allem figürlichen Malerei, aber er kannte genau die Tendenzen seiner Zeit, die in Richtung Abstraktion wiesen.
Liegendes Mädchen im weißen Kleid, um 1908
So gestaltete er ein liegendes Mädchen auf einer impressionistisch gemalten Wiese; das Kleid ist duftig weiß wie auf einem Renoir-Gemälde, das Muster der Decke aber, auf der das Mädchen liegt, ist eine abstrakte Farbkomposition. Seine Liegende von 1910 erinnert an Manets Olympia, ist aber dunkelhäutig. Der Blumenstrauß, den bei Manet eine Dienerin der nackten Dame des Hauses bringt, ist hier ganz zum Hintergrund geworden. So hat Weisgerber aus einem kleinen Detail bei Manet ein großes Kompositionselement entwickelt.
Damit werden aus realistisch anmutenden Figuren rein malerische Gestalten, die nicht aus der realen Welt stammen, sondern einer Kunstwelt, nämlich der des Gemäldes. Das zeigt sich auch an dem Bild mit den drei Aktfiguren: Die Figuren, die der auf diesem Bild abgebildete Maler offensichtlich auf Leinwand festhalten will, sind ungleich größer als der Künstler, ihre Körper wirken nicht wie aus Fleisch und Blut, die Haut hat nichts von einem Inkarnat an sich, diese Gestalten wirken eher wie aus Stein gehauen. Das sind Skulpturen, keine Menschen, und das Bild bezieht sich mit ihnen denn auch auf die Mythologie: Es sind die drei Grazien. Etwas Ähnliches gilt, wenn er Amazonen bei der Rast gestaltete oder Badende im Wald: Hier sind die Körper unnatürlich in die Länge gezogen. Hier wird deutlich, dass nicht nur die zeitgenössische französische Kunst auf ihn eingewirkt hat, sondern auch die Vergangenheit etwa eines El Greco. Weisgerbers Figuren bekommen damit etwas Übermenschliches, sie gehören in eine andere Seinssphäre. Das trifft auch auf den von van Gogh inspirierten Landmann mit der Sense zu. Weisgerber gab dem Bild den Titel Schnitter, und die Augen des Mannes liegen tief in den schwarz umrandeten Höhlen, es ist der Tod.
Er werde nicht Christus am Ölberg malen, sondern eine Olivenernte, der Betrachter aber könne trotzdem „dabei an jenes denken“, meinte van Gogh einmal. Weisgerber hat diesen Satz in seiner Kunst umgesetzt. So schuf er mithilfe von traditionellen und geradezu alltäglichen Motiven Bilder, deren Anspielungen sich nicht auf einen Künstler oder einen Kunststil beschränken, sondern mehrere Sphären in sich vereinen. Es sind im wahrsten Sinn des Wortes vielschichtige Bilder.
„Albert Weisgerber. Landschaft und Figurenbild“, Kunststiftung Hohenkarpfen bis 15.7.2018. Katalog 96 Seiten, 19,95 Euro