Der Titel einer Kunstausstellung sollte im idealen Fall das Wesen der ausgestellten Kunst erfassen und zugleich dem erwünschten Publikum einen Anreiz zum Besuch der Ausstellung liefern. Wenn das Kunstmuseum Reutlingen nun die Ausstellung von Jordan Madlon, dem diesjährigen Gewinner des Holzschnitt-Förderpreises, mit dem Wort Diagrammatisch überschreibt, dann wäre das für den künftigen Besucher von Nutzen, wenn damit das deutsche Diagramm gemeint wäre. Doch bezieht sich der Titel auf die diagrammatische Philosophie eines Gilles Deleuze, und die dürfte kaum ein Besucher kennen, insofern dürfte es für ihn auch wenig hilfreich sein, wenn er in den „erläuternden“ Wandtexten wieder damit konfrontiert wird.
Jordan Madlon, Shhhtturz – Konstellation, 2021
Keine Frage, das ist ein Holzschnitt, die dünnen Linien und die großen schwarzen Flächen sind typisch dafür, und das ist ja auch in dieser Ausstellung zu erwarten, denn Jordan Madlon gewann den diesjährigen Holzschnitt-Förderpreis der Freunde des Reutlinger Kunstmuseums. Aber bei Madlon ist alles ein wenig anders. Wer aufmerksam durch das Erdgeschoss seiner Ausstellung gegangen ist, kennt die Linien dieses Holzschnitts. Unten hängt eine dicke Holzplatte an der Wand, aus der Madlon einige Teile ausgesägt hat. Diese Linien hat er dann auf eine Holzplatte übertragen, und daraus entstand dann der erwähnte Holzschnitt. Im oberen Stockwerk der Ausstellung hängen nun beide Teile nebeneinander, Druckstock und Holzschnitt. Dieses Verarbeiten von einmal gefundenen Formmotiven ist typisch für Madlon. Oft liegen Jahre zwischen den einzelnen Schritten, in diesem Fall entstand die dicke Holzplatte mit den gesägten Cutouts 2017, der Holzschnitt erst in diesem Jahr.
Jordan Madlon, Shhhtturz – Herr Satz, 2017
Das heißt: während üblicherweise ein Holzschneider eine Holzplatte bewusst mit dem Messer bearbeitet, um einen künstlerischen Holzschnitt zu kreieren, entstand dieser Holzschnitt gewissermaßen als Folgeprodukt einer früheren Arbeit. Und auch die Holzplatte war nicht als eigenständiges Kunstwerk gedacht. Madlon brauchte die ausgesägten Holzstücke für eine kleine Wandinstallation, die jetzt neben der Holzplatte hängt. So kann man nachvollziehen, wie sich aus einem Arbeitsschritt der nächste ergeben hat. Die ausgesägten Teile hat Madlon rot eingefärbt und mit anderen abstrakten Elementen zu einer Installation vereint. Auch die Holzplatte ist also eine Art Bei- oder gar Abfallprodukt und zugleich eine gültige eigenständige künstlerische Arbeit.
So wurde aus einem Arbeitsmaterial für ein Werk eine eigene Arbeit, die wiederum die Quelle für weitere Arbeiten wurde – eine Formidee, mehrere Realisierungen, vor allem in mehreren Dimensionen. Die Holzplatte mit den Cutouts ist eine Art Relief, die Wandinstallation eine Skulptur, der Holzschnitt eine zweidimensionale Graphik – bei Madlon wandert ein Motiv immer wieder durch mehrere künstlerische Gattungen.
Und immer wieder muss man dabei die eigenen Vorstellungen von diesen Gattungen revidieren. Das trifft auch auf eine zweite Serie in dieser Ausstellung zu. Mit Bleistift hat er unzählige kleine abstrakte Striche auf die Museumswand gezeichnet, eine Art ecriture automatique. Diese hat er dann in eine Holzplatte geschnitten, um einen Holzschnitt anzufertigen. Das hat er auch getan, allerdings nicht, wie üblich, die Platte schwarz eingefärbt, damit die ausgeschnittenen Linien auf dem gedruckten Papier weiß hervortreten, sondern weiß. Dann hat er einmal auf schwarzes Papier gedruckt. Die Folge ist gewissermaßen eine optische Umkehrung dessen, was man vom Holzschnitt gewohnt ist: Die Flächen sind weiß, die Striche schwarz.
Jordan Madlon, (Ductus Print) L, 2021
Ein anderes Mal hat er die Platte auf dünnes Reispapier gedruckt, sodass die ausgeschnittenen Striche transparent in der weißen Papierfläche erschienen wären, hätte er dieses Reispapierblatt nicht auf ein schwarzes Tuch genäht, sodass die Striche wieder dunkel erscheinen, allerdings durch das opake Reispapier nicht schwarz, sondern grau. Madlon spielte so alle Formen des Holzschnitts durch und kehrte ihn nicht selten in sein Gegenteil um.
Aus einem solchen Strichholzschnitt kann dann auch ein Kissen werden oder ein zusammengeknüllter Ball, und zusammen mit Holzschnitten und Druckstöcken entstand auch spielerisch ein Mobile.
Diese Formenvielfalt entsteht bei Madlon aus jeweils einer Motividee. Madlons Kunst folgt dem Prinzip der Metamorphose, die unterschiedlichen Resultate sind so etwas wie unterschiedliche „Aggregatzustände“ des Holzschnitts. Das kann man, wie er es tut, in Anlehnung an die französische Philosophie eine Gilles Deleuze diagrammatisch nennen, und der Ausstellungstitel folgt ihm. Ob es dem Besucher der Ausstellung hilft, ist fraglich. Hier stehen Ausstellungstitel und Wandtexte einem Werkverständnis eher entgegen. Am besten, man vergisst das als Besucher und setzt sich einfach mit den Werken auseinander. Sie sprechen ihre eigene Sprache, sind voll ästhetischer und materieller Reize und auch voller Witz.
„Jordan Madlon. Diagrammatisch“. Kunstmuseum Reutlingen bis 14.11.2021.