Kapitale Kunstwerke? Das neue Gesicht der Kunsthalle Tübingen

Die Kunsthalle Tübingen ist ein Begriff – dank publikumsträchtiger Ausstellungen mit Klassikern der Moderne wie Cézanne, Degas oder Toulouse-Lautrec und Künstlern der Moderne wie Polke, Kiefer oder Karin Kneffel. Doch seit einigen Jahren ist das Haus wegen Umbaus geschlossen – und es ist die Frage, ob der langjährige Direktor der Kunsthalle und nachmalige Stiftungsvorsitzende Götz Adriani nicht den Ruhm des von ihm und danach Martin Helmold und Daniel J. Schreiber geleiteten Instituts überschätzt hat, denn eine jahrelange Pause, unterbrochen von einer Ausstellung, die mit dem Signum Tübinger Kunsthalle nichts zu tun hatte, ist gefährlich. Vielleicht hätte Adriani eine Übergangsausstellungslösung finden sollen. Jetzt muss die Kunsthalle nach der Renovierung wieder neu erfunden werden – und der neue künstlerische Vorstand Holger Kube Ventura versucht das mit einer drastischen Neuorientierung: Gesellschaftsrelevanz ist angesagt statt Ästhetik: Kapitalströmung.

Holger Wüst. Venedig Refugee / Non Citizen Protest Camp – gegen Grenzen,Nationen und ‘die ganze ökonomische Scheiße’ (Detail), 2014

Ein aus Versatzstücken collagiertes Venedigbild ziert die große Wand des Hauptsaals der Halle: Wir sehen den Löwen auf seiner Säule, im Hintergrund die Kirche San Giorgio Maggiore, vorne den Markusplatz und hautnah an die Mole herangerückt einen Ozeanriesen, wie er so dicht an den Markusplatz nie gelangen könnte. Holger Wüst hat aus zahlreichen im Internet auffindbaren Bildern gewissermaßen ein Venedig hoch zwei ins Bild gesetzt, und dabei an politischen Hinweisen nicht gespart. Wir sehen auf dem Tourismusmagneten par excellence, dem Markusplatz, Zelte mit Flüchtlingen. Flüchtlingsströme und Tourismusströme werden so parallel (oder gegeneinander?) gesetzt – beide in dieser Form der Serenissima nicht lieb, denn die einen bringen kaum Devisen in die Stadt, da sie auf dem Schiff schlafen und essen, die anderen, weil sie Kosten bringen statt Geld. Und als Galionsfigur hat Wüst dem Schiff auch noch riesengroß den Kopf des Kapitalismuskritikers schlechthin vorangestellt: Karl Marx. Das ist ästhetisch faszinierend gemacht und regt zum Nachdenken kann; was will man von einem Kunstwerk mehr.

Holger Kube Ventura hat noch stärker, als es Vorgänger Adriani gelegentlich mit Ausstellungen von Polke, Walther oder Kiefer getan hat, gesellschaftliche Relevanz zum Thema seiner Eröffnungsausstellung erhoben und dafür das Thema unserer Tage ausgesucht. Denn ob Panama Papers, Hedgefonds, Luxemburg Leaks, Bad Banks – das Gesprächsthema der letzten Jahre sind nicht künftiger Erdölmangel oder sonstige Ressourcenknappheit, sondern Fragen des Kapitals. Zum Golde drängt, am Golde hängt eben alles, wie es im Faust heißt, in dem es eben nicht nur um Erkenntnis, sondern auch um materielle Fragen geht.

Filip Markiewizc hat mit dem Bleistift riesengroße Geldscheine der besonderen Art gestaltet, Noten für 5, 10, 20, 50, 100 und 200 Euro mit den Köpfen von Marine le Pen, Kim Kardashian und Donald Trump nebst zahlreichen symbolischen Verweisen, in denen immer wieder Jesus in vielerlei Gestalt auftaucht. Politik als Währung unserer Tage.

Christin Lahr überweist seit Jahren täglich einen Cent an das Bundesfinanzministerium zur allmählichen Abtragung des Schuldenbergs. Auf den Überweisungsträger trägt sie in das Feld „Verwendungszweck“ 108 Zeichen aus Marx‘ Buch Das Kapital. Dass sie damit unter der Hand mehr Kosten verursacht als Schulden abträgt, verstärkt die Ironie der ganzen Handlung, denn jede Buchung muss ja verwaltet werden.

Ganz anders setzt Johanna Kandl ihre Gesellschaftskritik ins Bild. Sie malt Fotos, die nach ihren Anweisungen entstanden sind, auf etwas naiv anmutende Malweise nach. Den Bildern gesellt sie Textzeilen aus der politischen Diskussion unserer Tage wie Kontrapunkte bei. Eines dieser Bilder könnte eine Illustration zum Märchen Die Sterntaler sein.

Johanna Kandl. O.T. (Food is the new oil), 2013

In einem luftig wirkenden Wald sitzt eine Schweinehirtin umgeben von den idyllisch grasenden Tieren. Sie scheint den Talerregen über sich gar nicht zu bemerken – und somit auch nicht die Botschaft begriffen zu haben, die längst in der Diskussion um Reichtum auf dieser Erde verbreitet ist und als Motto am unteren Bildrand zu lesen ist: „food is the new oil. land is the new gold“.

Solche Subtilität und Tiefe erreichen freilich längst nicht alle Arbeiten.

Wood/Galimberti. Mr. Neil M. Smith is the British Virgin Islands’ Finance Secretary, photographed here in his office in Road Town, Tortola. The BVI is one of the world’s most important offshore financial service centers and the world leader for incorporating companies 

Paolo Wood und Gabriele Galimberti zeigen auf gestellten Fotos Szenen aus dem Finanzparadies der Kaimaninseln. Das ist nicht viel mehr als eine Dokumentation eines sorgenfreien Lebens mit Hochglanzfotos, bei denen nur hin und wieder auch ein Hinweis auftaucht, dass es neben dem Reichtum und Luxus auch hier Armut gibt.

 

Gabriel Kuri hat in einer Vitrine Leuchtzeichen aus mehreren Ländern versammelt, die auf den Standort eines Geldautomaten verweisen, und darüber einen Plastikbeutel mit Wasser gehängt: Liquidität und ihre „Quellen“ mag man assoziieren, mehr aber auch nicht.

Florian Haas hat in einem wandgroßen Bild das Finanzzentrum Frankfurt als riesigen Totentanz porträtiert, doch die Aussagekraft von Wüsts ebenfalls wandgroßem Venedigbild erreicht er nicht, zu niedlich wirken die zahlreichen Skelette.

Doch insgesamt ist Holger Kube Ventura eine nachdenklich stimmende Ausstellung gelungen, bei der nun nur noch neben den von den Kunstwerken thematisierten Kapitalströmen auch Publikumsströme folgen müssen. Ob sie das in ausreichendem Maße tun, ist eine spannende Frage. Er hat damit – und die geplanten künftigen Ausstellungen deuten in dieselbe Richtung – die Kunsthalle Tübingen neu erfunden, gewissermaßen statt eines Kunstmuseums in Tübingen unter Adriani eine Art Württembergischen Kunstverein in der Unistadt am Neckar kreiert, der ja auch eher die Gesellschaftsrelevanz als die Ästhetik der Kunst zum Thema hat.

Kapitalströmung“, Kunsthalle Tübingen bis 11.6.2017. Katalog 96 Seiten 10 Euro

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