Objektiv sollte sie sein, klar, schematisch, vor allem bar jeder Persönlichkeit – die Künstler der Minimal Art strebten in den 60er Jahren eine radikale Abkehr von der extrem subjektiven Kunst der abstrakten Expressionisten an, die spontan ihr Innerstes im Augenblick des Malens auf die Leinwand brachten. Die Folge: Reduzierung auf einfachste geometrische Formen, Vermeidung jeder persönlichen Handschrift, Verwendung industriell genormter Materialien. Das sollte die Konzentration schärfen und den Betrachter auf seine eigene Wahrnehmung lenken. Solche Zielsetzungen faszinieren auch heute noch, auch die Reduzierung auf einfache Formen, und doch ist das, was Künstler heute unter Bezugnahme auf die Minimal Art herstellen, etwas radikal anderes, wie eine Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen zeigt.
Hätte Altmeister Dan Flavin einen Kreis an die Wand hängen wollen, dann hätte er eine runde Neonröhre genommen, perfekt in der Kreisform, ohne Abweichung, dazu gleichmäßig strahlendes Licht. Auch in Tübingen findet sich ein Neonkreis, doch die Linie ist seltsam zittrig. Beate Terfloht hat aus einer Neonröhre einen Kreis geformt, der aussieht, als habe sie ihn frei mit der Hand gezeichnet. Die minimale Beschränkung in der Form dient plötzlich zum Ausdruck persönlicher Handschrift.
Das hatten in den 70er und 80er Jahren bereits Eva Hesse und Franz Erhard Walther getan. Deren „Postminimalismus“ eröffnet den Reigen dessen was sich als Folge der Minimal Art entwickelt hat. Hesse verwendete Materialien wie Stoff, was die puristischen Minimalisten nie getan hätten, Walter forderte zudem noch den Betrachter auf, in die Kunstwerke einzugreifen, sie zu verändern. Das Formale an Walthers Arbeiten gefiel dem Minimalpuristen Donald Judd, ihn störte aber der Ausdruck von Menschlichkeit – und genau den bringen die Künstler heute in den Minimalismus ein.
So ist ein ganzer Raum dem Gitter gewidmet. Was den Künstlern früher die perfekte Form der Unpersönlichkeit war – mit Lineal gezogene Linien im rechten Winkel zueinander – wird nun zum Spiel mit dem eigenen Ich. Mal werden die Linien unregelmäßig gezogen, dann wieder sind sie eindeutig von Hand gezeichnet, krakelig der Führung, und wenn eine Künstlerin wie Caroline Kryzecki zum Lineal greift, dann setzt sie die Linien leicht versetzt zueinander, sodass es dem Betrachter vor den Augen flimmert. Hier wird auf den ersten Blick deutlich, was dem Betrachter in der Konfrontation mit den Minimal Artists der ersten Stunde oft wenig klar war: Er wird sich seiner Wahrnehmung bewusst.
Das gilt auch für das Bodenfeld, das Mariella Mosler nicht aus Kunststoffplatten ausgelegt hat, wie es ein Carl Andre getan hätte, sondern mit glänzendem Granulat, das an den Rändern mit Körnern vereinzelt ausbröselt – ein „Makel“, der in der Minimal Art unverzeihlich gewesen wäre. Ähnlich wie der Materialmix von Ruth Root, die scheinbar die klaren Flächen der Hard-Edge-Malerei nachahmt, doch die einzelnen Flächen mal glatt lackiert, mal aus normalen Textilstoffen mit herkömmlichen Mustern herstellt, die sie dann auch noch malerisch verändert. So ergeben sich schon von der Oberfläche her taktile Unterschiede.
Den Bodenplatten eines Carl Andre begegnet man aber dennoch in dieser Ausstellung. Sylvie Fleury lässt in einem Video auf solchen Bodenplatten Frauen in Stöckelschuhen stolzieren – ein ironischer Kommentar auf die großen Vorbilder, die man doch auch wieder hinter sich lassen möchte. So hängen von Fleury auch sieben metallisch glänzende Kästen an der Wand, die aussehen wie sehr dicke Regalbretter. Sie könnten von Donald Judd stammen, aber auf ihnen lagern amorphe goldfarbene Gebilde, die wie zäh fließendes Wachs wirken – die Minimal Art geht eine Verbindung ein mit dem natürlichen Werden von Formen.
Überhaupt kann man die Arbeiten in dieser Ausstellung als bewusste und meist augenzwinkernde Reaktion auf die Minimal Art sehen. Das „Ja – aber“ steht unausgesprochen hinter ihnen, vor allem, wenn sich die Künstler mit dem Inbegriff der Minimal Art befassen, dem Kubus, der unemotionalsten Form, wie Sol LeWitt sie einmal nannte. Nicht so in der Kunst heute.
Lara Favaretto ließ große Würfel aus Konfetti pressen, ohne Klebstoff. Das Konfetti löste sich zum Teil von der Außenseite und liegen nun am Boden – ähnlich wie die einzelnen Granulatkörner, die sich vom Bodenfeld von Mariella Mosler gelöst haben. Ein „Makel“, aber ein Makel mit Aussage: Hier offenbart sich, was in den minimalen Formen auch stecken kann – ein Innenleben, das die Minimalisten der ersten Stunde rundweg geleugnet hatten. Sabine Groß stapelte mehrere Kuben übereinander, weiß, wie es sich gehört, also ganz minimalistisch, doch brechen sie an einer Stelle auf und offenbaren ihr Innenleben, eine Art Stroh oder die Fasern einer Spanplatte. So wird aus dem aseptischen White Cube ein Nistplatz, so der Titel. Und Christiane Löhr zaubert aus „Lebendigem“, nämlich Materialien aus der Natur wie Samen, strikt geometrische Gebilde, die plötzlich alle Strenge verlieren: Die geometrische Form wird sehr organisch.
Und die Kuben aus Konfetti zeigen noch einen weiteren Aspekt: Der Kubus löst sich auf – und mit ihm die Minimal Art alter Prägung, könnte man weiterdenken. Am drastischsten macht das Kay Walkowiak: Er erklimmt in einem Video einen Alpengipfel. Auf dem Rücken trägt er eine weiße rechteckige Platte: Minimal Art goes Nature gewissermaßen, und oben angelangt zerschmettert er die Platte auf einem Felsen. Dazu erklingt Mozarts Requiem. Das verweist auf ein Stirb und Werde: Die Minimal Art mag vergangen sein, aber, wie die Ausstellung zeigt, aus ihr entstand neues Leben – lebendig, vielfältig, fantasiereich und sehr witzig, und zumindest das war die Minimal Art nicht.
Bleibt bei diesem gedankenreichen und zugleich sehr sinnlichen Projekt nur ein Wermutstropfen. Der informative und sehr lesbare Aufsatz von Katharina Groß im Katalog ist derart minimalistisch in winzigen grauen Lettern gesetzt, dass er schwer zu entziffern ist.
„Sexy and Cool. Minimal Goes Emotional“, Kunsthalle Tübingen bis 1.7.2018. Katalog 123 Seiten, 25 Euro