Es war ein Geben und Nehmen: Die japanischen Künstler stürzten sich voller Neugier auf die Kunst in Europa, vor allem aber die europäischen Künstler ließen sich von der japanischen Kunst inspirieren. Über zweihundert Jahre lang hatte sich Japan von der Außenwelt abgeschottet, 1853 schließlich erzwangen die Amerikaner die Öffnung und veränderten indirekt die Kunst in good old Europe. Denn in großer Zahl gelangten japanische Holzschnitte nach England und Frankreich, erst als Verpackungsmaterial für Tee, alsbald aber auch als eigenwertiger Handelsartikel: Sie wurden der letzte Schrei. Ein regelrechter Kunsthandel entwickelte sich – und hinterließ seine Spuren in der europäischen Kunst, insbesondere der französischen, wie jetzt eine Ausstellung der Staatsgalerie Stuttgart vorführt.
Utagawa Kunisada. Ohana, die Frau von Yogosaku, um 1850. Staatsgalerie Stuttgart
Faszinierende Berggipfel, spritzende Wasserwogen, Kurtisanen – es war eine Welt des prallen Lebens, das die Holzschneider im Japan des 18. und 19. Jahrhunderts faszinierte: Ukiyo-e, Bilder der fließenden Welt, nannte sich dieser Kunststil, und er konfrontierte die Künstler der französischen Metropole mit einer Szenerie, die der ihren durchaus verwandt war: Auch ein Toulouse-Lautrec widmete sich der Welt des Theaters, Edouard Manet liebte Szenen in Cafés.
Und doch war das, was da plötzlich aus Japan nach Europa schwappte, eine ganz neue Welt: Das, was die Kunst des Abendlandes jahrhundertelang geprägt hatte (allerdings durch die Impressionisten schon wieder etwas aufgeweicht worden war), fehlte hier völlig: die Zentralperspektive. Die Japaner liebten geschwungene Linien, starke Kontraste, große Flächen gegen filigrane Muster gesetzt.
Für die Künstler in Frankreich muss es wie eine Offenbarung gewirkt haben, verlangte es sie doch schon lange nach einer völlig neuen, unverbrauchten Ausdrucksform, und sie suchten hierzu nicht selten auch das auf, was ihnen wie ein unverdorbenes Paradies vorkam wie etwa die Südsee, in der Paul Gauguin seine Erfüllung fand.
Und so dringt in die französischen Bilder plötzlich das ein, was viele japanische Holzschnitte vor allem eleganter Damen prägte: Muster kostbarer Seidengewänder, die sich nicht selten über den größten Teil eines Bildes erstreckten und alles dominierten. Als Toulouse-Lautrec eine Prostituierte schräg von hinten porträtierte, wie sie sich zu einem Waschzuber beugt, hatte er möglicherweise die großen dunklen Kleider japanischer Holzschnittporträts vor Augen. Auch der Waschzuber fand sich häufig auf japanischen Holzschnitten. Neu war auch die extreme Aufsicht, bei der alle Figuren klein wirkten, zu Punkten schrumpften, bei der die Konturen sich nicht selten aufzulösen schienen.
Vor allem die Künstlergruppe der Nabis ließ sich von Mustern faszinieren. Pierre Bonnard, seinen Freunden „le nabi japonard“ genannt, hatte in seinem Atelier dutzende der japanischen Drucke, die für seinen Stil prägend wurden. So zeigt er wie japanische Holzschnitte von Kabukitheateraufführungen Theaterszenen nicht mit Blick auf die Bühne, sondern mit Blick von der Bühne in den Zuschauerraum. Mit extremen Anschnitten der dargestellten Szenen erweckten die Japaner den Eindruck von momenthafter Unmittelbarkeit und regten das Auge an, die Szene über den Ausschnitt hinaus weiter zu imaginieren. Vor allem Edgar Degas griff diesen Kunstgriff begeistert auf.
Dabei ahmten die französischen Künstler keineswegs die japanische Kunst, die sie lange nicht gekannt hatten, einfach nach, sie verwandelten sich vielmehr wesentliche Stilelemente, die sie darin als neu entdeckten, an und schufen mithilfe solcher Einflüsse ihre ganz eigenen neuen Bildwelten.
Henri Toulouse-Lautrec. Femme au tub, 1896. Staatsgalerie Stuttgart
So ist das, was Toulouse-Lautrec auf seinen Plakaten zu Papier brachte, eindeutig von japanischen Vorbildern beeinflusst und ist doch gänzlich französisch, Ausdruck seiner Zeit und seiner Welt.
Die Ausstellung schlägt ein wichtiges Kapitel europäischer Kunstgeschichte auf, als die Kunst der alten Welt am Scheideweg stand und mithilfe der japanischen Kunst einen eigenen neuen Weg fand – weg von der Tiefenperspektive hin zu einer eher flächigen Gestaltung, einem Hang zum Ornament und letztlich zu einer Vorstufe dessen, was dann im 20. Jahrhundert als reine Abstraktion die Kunst revolutionierte.
Diese kunsthistorischen Dimensionen der Ausstellung freilich muss sich der Besucher selbst aneignen oder aber im digitalen Sammlungskatalog der Staatsgalerie mühsam für jedes einzelne Bild aufrufen, sofern er sich die Künstlernamen und Bildtitel notiert hat, denn eine Liste zu dieser feinen graphischen Ausstellung findet sich zwar im großen Katalog zur Ausstellung der Schweizer Privatsammlung, die durch diese Holzschnittausstellung ergänzt wird, doch den erwirbt nicht, wer sich – zu Recht – gerade für diese japanisch-französische Kulturbegegnung interessiert. Bei früheren Ausstellungen der Graphischen Sammlung (Dürer und Lucas van Leyden) konnte man zu diesem Zweck im Internet einen regelrechten Onlineführer aufrufen, in dem alle Exponate abgebildet und textlich erläutert waren. Eine solche Einrichtung wäre auch hier hilfreich; die entsprechende inhaltliche Arbeit hierzu ist von den zuständigen Mitarbeitern der Staatsgalerie geleistet, fehlt nur der technische Zugang, wie er ja schon bei früheren Anlässen zu Gebote stand.
„Ans andere Ende der Welt. Japan und die europäischen Meister der Moderne“. Staatsgalerie Stuttgart bis 18.6.2017