In der Kunstgeschichte unterscheidet man die beiden Gattungen; wie nah sie miteinander verwandt sind, zeigt eine Ausstellung im Kunstmuseum Albstadt: Interieur – das Bild eines Innenraums – und Stillleben, das Bild toter oder regloser Gegenstände. Ohne Stillleben, so ließe sich definieren, kein Interieur, und ohne Innenraum ist ein traditionelles Stillleben kaum vorstellbar.
Rolf Escher, Büchersturz in London (British Library), 1999 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2024. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Wer einmal das hehre Vergnügen (und die Ehre, denn allzu viele Sitzplätze gab es nicht), im Lesesaal des Britischen Museums seiner Lektüre zu frönen, wird auf einer Zeichnung von Rolf Escher den Ort seines wissenschaftlichen Tuns wiedererkennen – jenen großen Rundsaal, durch dessen hohe Kuppel Tageslicht einströmte. Freilich: ein realistisches Porträt hat Escher da mit Graphit und Farbstiften nicht auf das Papier gebracht, sein Lesesaal mutet eher wie eine Zauberstube an: Perspektiven sind verrutscht, Rundungen zum Oval verformt, und was sich dort ereignet, dürfte jedem Bibliothekar die Haare zu Berge stehen lassen: Bücher purzeln aus lichter Höhe hinunter wie weiland Menschen beim Prager Fenstersturz, der den 30jährigen Krieg auslöste. Wenn Künstler des 20. Jahrhunderts sich mit dem Phänomen Interieur befassen, steht am Ende kaum mehr jenes perfekte Abbild realer oder real möglicher abgeschlossener Räume, wie man es von früheren Jahrhunderten her kennt. Selbst das älteste Interieur der Ausstellung, ein Zimmer mit strickender Frau von Gotthardt Kuehl von 1896, zeigt nicht eine konzentrierte Handarbeiterin, sondern eher eine Frau, die zum Zeitvertreib strickt: Die Holzpantinen hat die junge Frau aus Bequemlichkeit abgestreift, das Wollknäuel liegt am Boden, das offene Fenster bietet einen Blick ins helle Freie – dieser Innenraum ist ein Freiraum, nicht eine Eingrenzung.
Martina Geist, Bühne I, 2012 © VG Bild-Kunst, Bonn, 2024. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Mit wenigen Strichen und großen Flächen deutete Martina Geist über hundert Jahre danach lediglich die Ahnung eines Raums an. Bühne nennt sie es, ein Interieur, das nur durch Requisiten – vier Stühle – definiert wird. Wie wenig es braucht, um einen Raum zu definieren, zeigt Rolf Escher auf einer Zeichnung: Fünf Stühle machen hier das Mobiliar aus, auf einem der Stühle sitzt ein alter Mann. Warteraum heißt das Bild, und Escher verdeutlicht mit wenigen Bildelementen, was einen Raum zum Warteraum macht: Stühle und ein Mensch, der wartet – worauf? Das bleibt offen. Vielleicht das Ende. Und schon wird, was wie ein realistisches Bild eines Interieurs sein könnte, ein Symbol für die menschliche Existenz. Vor allem zeigt das Bild, wie nahe Interieur und Stillleben einander stehen, denn letztlich ist dieser Warteraum auch eine Art Stillleben, nur eben mit einem einzigen Menschen, nicht, wie man sonst gewohnt ist, mit mehreren Tieren oder Gegenständen.
Natürlich finden sich in der Ausstellung auch vergleichsweise traditionelle Bildkompositionen. Ein Holzschnitt von Wilhelm Laage mit einem dunklen Krug, wie der Bildtitel verheißt, ist ein herkömmliches Stillleben mit Krug und Früchten. Doch auf seinem um dieselbe Zeit entstandenen Stillleben mit gelben Äpfeln sind die Früchte farblich derart hervorgehoben, dass das Bild fast surreale Züge erhält. Und auch die vom Motiv her auf den ersten Blick traditionell anmutenden Tulpen in einer Vase von 1916 von Christian Rohlfs bestehen genau genommen lediglich aus einigen farbigen Strichen – so raffiniert ausgewählt und platziert, dass sich ein fast realistischer Anblick eines Blumenstilllebens ergibt, aber eben nur fast. Rohlfs ist da der Malweise, mit der Max Uhlig 1975 einen Kleinen Blumenstrauß darstellte, nicht so weit entfernt, auch wenn sein Bild über ein halbes Jahrhundert älter ist. Die Ausstellung macht deutlich, wie früh so altehrwürdige Sujets wie Interieur und Stillleben bereits moderne Gestaltungen aufweisen.
So gilt es, bei diesen Arbeiten umzudenken, die festen Begriffe der Kunstgeschichte zu hinterfragen. So ist der deutsche Titel Weihnachtsjagd für einen Holzschnitt von William Stephen Coleman von 1857 zwar nachvollziehbar – zu sehen ist Geflügel in einem Korb für den Festmahlstisch –, doch mag der Engländer mit seinem Titel A Christmas Game auch ein Wortspiel gemeint haben, denn das englische „game“ heißt auf deutsch neben „Wild“ auch einfach „Spiel“ – ein Weihnachtsspiel.
Derlei Spiel mit den Begriffen und den dahinter sich verbergenden Vorstellungen findet sich gerade auch bei Künstlern unserer Zeit. Wenn Rolf Escher einen Fasan auf einem Tischtuch porträtiert, assoziiert man mit diesem mageren, auch noch unter einem Tuch versteckten Tier kaum einen üppigen Festtagsschmaus, vielmehr erhebt sich die Frage, wozu dieses Lebewesen sterben musste.
In einer Arbeit von Pia Maria Martin mit der im Zusammenhang mit Stillleben fast ironisch anmutenden Gattungsbezeichnung „Animation“ und dem dann wiederum passenden Titel Vivace erwachen die traditionellen Bestandteile eines „Stilllebens“ wie Tiere, Früchte und Blumen zu einem geheimnisvollen Leben; der deutsche Begriff „Stillleben“ wird dabei ebenso ad absurdum geführt wie der französische „nature morte“.
Und wenn Künstler von heute wie Jan Peter Tripp oder Brigitte Wagner auf den ersten Blick geradezu augentäuscherischen Realismus vorzuführen scheinen – Flaschen, Schränke, Malutensilien –, dann wird der Blick des Betrachters beim genauen Hinsehen auf die raffinierte Technik dieser Darstellung gelenkt, auf das Künstlerische, nicht das Inhaltliche. Michael Schwan, 48°53‘5.57“N, 2014 © Michael Schwan. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Ähnlich ergeht es dem Betrachter bei den Fotografien, die Michael Schwan in einer alten Mühle aufgenommen hat. Seine Bilder wirken wie symbolhafte Einblicke in das Altern von Räumen schlechthin.
So verbirgt sich hinter den so traditionell, je geradezu altbacken wirkenden Titelwörtern der Ausstellung eine Auswahl an Werken, die den Blick schärfen können für die Gestaltungsweise, für Neudeutungen alter Inhalte – die Kunst an sich. Warum freilich diese gelungene Werkauswahl im oberen Stock mit einigen wenigen Arbeiten im Erdgeschoss in der Atelierwerkstatt für Kinder weitergeführt wird, ist unerfindlich und unbegreiflich.
„Interieur & Stillleben in Moderne und Gegenwart“, Kunstmuseum Albstadt bis 13.10.2024. Katalog 88 Seiten