Ein „Selfie“ ist ein Abbild meiner selbst, von mir hergestellt mithilfe eines Aufnahmegerätes, meist eines Smartphones. Wird ein solches Abbild von einem anderen angefertigt, nennt man das „Porträt“. Beide sollten eine Voraussetzung erfüllen: Sie sollten jeweils perfekt das Gesicht eines Menschen wiedergeben mit all seinen Eigenheiten und persönlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Seit Jahrzehnten stellt Wolf Nkole Helzle Porträts mit dem Fotoapparat her, Zehntausende hat er so fotografisch festgehalten, in aller Welt, und doch ist er alles andere als ein Porträtfotograf.
Ein Gesicht blickt uns an, es wirkt freundlich, jugendlich, persönlich – und zugleich auf seltsame Weise unpersönlich. Das mag daran liegen, dass es wirkt wie mit einem Weichzeichner aufgenommen wurde, der Kontrast ist stark reduziert – bei Wolf Nkole Helzle hat dieser Eindruck allerdings einen ganz anderen Grund. Das, was uns da anlächelt, ist nicht das Gesicht eines Menschen, es ist das Konglomerat von Hunderten von Gesichtern, manchmal von Tausenden, je nachdem, welchem Projekt es entsprungen ist. Helzle fotografiert gewissermaßen Soziotope. Das können die Besucher eines Kindergartens sein, die Mitarbeiter eines Museums, oder aber auch Tausende von Menschen auf der Schwäbischen Alb. Zwar stellt Helzle von jedem Menschen ein einzelnes Porträtfoto her wie es üblich ist, sogar streng normiert, vor schwarzem Hintergrund, direkt, frontal. Am Computer aber überlagert er die Fotos – und siehe da: die Details verschwinden. Sollte jemand einen Pickel haben, dürfte dieser Makel in der Überlagerung von mehreren hundert pickellosen Gesichtern untergehen. Wie viele Einzelfotos in ein jeweiliges Endprodukt eingegangen sind, zeigt Helzle in der Regel mit einer Bildtafel, die sich aus Dutzenden (oder Hunderten, Tausenden) kleiner Einzelfotos zusammensetzt. Helzle stellt kollektive Porträts her. Über die Jahrzehnte hinweg arbeitet er so an einem Bild des „homo universalis“.
Das mag wie eine Spielerei wirken, doch führt es sehr rasch zu einem ganzen Spektrum von Fragen, die um das Wesen der Identität kreisen. Ist das noch ein Porträt, wenn das Foto wichtige Details, die ja den einen Menschen vom anderen unterscheiden, unterdrückt? Geht der Einzelne hier nicht unter in der Masse, oder zeigt sich umgekehrt in einem solchen kollektiven Porträt eine Eigenheit, die man dem einzelnen Gesicht nicht entnehmen kann? Ich bin wir – so nannte Helzle ein solches Projekt einmal – man könnte es auch umkehren: Das wir bin ich (auch). Helzle ist Jahrgang 1950, er hat das Entstehen zweier deutscher Staaten mit diametral entgegengesetzter Ideologie miterlebt: die auf uneingeschränkte Individualität des Einzelnen setzende der Bundesrepublik, die alles Individuelle im Kollektiven vereinnahmende der DDR. Der Sozialismus ist schließlich gescheitert, doch der Individualkapitalismus stößt auch allenthalben an seine Grenzen. Was wie eine Porträtkunst der besonderen Art wirkt, ist eine Auseinandersetzung mit hoch philosophischen Sachverhalten.
Hinter allem aber steht die Frage: Was ist der Mensch, was macht seine Individualität aus? In einem Zyklus hat Helzle zwölf Bekannte gebeten, ihn an einen ihrer Lieblingsplätze zu führen. Dort fotografierte er – und setzte auf seinen danach entstandenen Porträts an die Stelle des Gesichts – an die Stelle also von Stirn, Augen, Nase, Wangen, Mund und Kinn – das Foto der ausgewählten Lokalität. Auf den ersten Blick meint man, er habe auf diese Weise dem Porträt das genommen, was das Ich ausmacht, nämlich das Gesicht. Doch in Wirklichkeit hat Helzle es lediglich durch das ersetzt, was die so von ihm porträtierte Person gesehen hat: Ich bin, was ich sehe – zwei Perspektiven verschmelzen in einem Porträt, man meint, in das Gehirn der Porträtierten schauen zu können.
Ähnlich kollektiv geht er bei mit seinen Landschaftsporträts vor. Auf seinen Spaziergängen über die Schwäbische Alb oder durch größere und kleinere Städte (wie Bremen oder Balingen) fotografiert er in regelmäßigen Abständen und überlagert die meist hundert Einzelaufnahmen wie bei seinen kollektiven Porträts, am Computer. Das Ergebnis sind Landschafts- oder Stadtporträts, die wie impressionistische Gemälde wirken: Details lösen sich in einem Flimmern aus Licht und Farbe auf – und doch kann man noch Details ausmachen: Baumstämme am Wegesrand, die Golden Gate Bridge in San Francisco. Entstanden bei den kollektiven Personenporträts gewissermaßen generische Porträts – Synthesen einer Gruppierung -, so verwandeln sich bei seinen „Walks“ Landschaftsfotos in Malerei.
Bei einem Lehrauftrag in Peking entwickelte er ein weiteres Projekt. Vierzig Studenten sollten sich in einem Kreis aufstellen und jeweils einen ihrer Kommilitonen in der Mitte auf Kommando fotografieren. Das Ergebnis: ein Rundumporträt, der Mensch aus der Sicht von 360 Grad! Aus dem Individuum wird eine Figur, fast eine Pirouetten drehende Eistanzfigur, die in einer Momentaufnahme eingefroren zu sein scheint.
Hat er hier das Rundumporträt dadurch zuwege gebracht, dass er die porträtierte Person von vierzig Fotoapparaten hat umstellen lassen, so beginnt er inzwischen, selbst die 360 Grad-Perspektive herzustellen, indem er einzelne Bäume mit dem Fotoapparat umkreist.
Das sind alles höchst unterschiedliche Projekte, die doch alle typisch für diesen Künstler sind: Das Einzelfoto wird durch die Menge ersetzt, das Individuum geht ins Kollektive ein, das Ich wird zum Wir und bleibt doch im Wir zugleich auch das Ich. Aus den einzelnen, hintereinander entstandenen Fotos wird ein Kontinuum in einem einzigen Bild. Zum Raum wird hier die Zeit, heißt es in Richard Wagners „Parsifal“, bei Helzle wird die Zeit zur Figur.
Wolf Nkole Helzle. Fotografische Verdichtungen. Menschen und Landschaften. Zehntscheuer Balingen bis 3.10.2016
Zu Wolf Nkole Helzle haben Horst Simschek und ich ein Filmporträt auf Youtube eingestellt
Lieber Herr Zerbst,
schaue ja immer wieder mal auf ihre interessante Homepage.
Diesmal hat mich aber Wolf Nkole Helzle auf ihre Seite gebracht, indem er sie verlinkt hat.
Das läuft ja grandios für Sie.
Herzliche Grüße
Karin Gramling
…..war so schön, dass wir uns bei Pollesch getroffen haben. Schönen Restsommer!