Aufgrund schlechter Erfahrungen zum Frauenhasser geworden, zog sich ein Bildhauer ganz in seine Kunst zurück und schuf – eine perfekte Frauenstatue, so perfekt, dass er sich in sie verliebte. So erzählt es unter anderem Ovid von Pygmalion und schuf damit die Basis für eine Tradition in der Bildhauerei, in der eine möglichst lebensechte Darstellung der menschlichen
Figur angestrebt wird, die freilich zugleich auch idealisiert ist, ob nun beim David eines Michelangelo ist oder beim Apollo von Belvedere. Daran hat sich auch im 20. Jahrhundert fast nichts geändert – außer der Technik und dem Material, wie eine Ausstellung in der Tübinger Kunsthalle belegt.
Auch in den Body Builder, den Duane Hanson 1990 schuf, kann man sich verlieben, so man auf Muskelpakete steht, denn die Besuche im Fitnessclub haben sich ausgezahlt. Hansons Figuren scheinen dem Leben entlehnt, dem ganz normalen Alltagsleben, haben nichts von den idealen Posen an sich, die selbst noch jenen Skulpturen zu eigen sind, die im 20. Jahrhundert mit abstrakten Gestaltungselementen entstanden. So nannte John DeAndrea seine 2016 entstanden Plastik denn auch nicht „Liegende“, obwohl sie durchaus dieser klassischen Figurenhaltung entspricht, sondern sehr persönlich-individuell Lisa. Die Gestalten dieser Hyperrealisten gleichen Menschen wie Du und Ich, schließlich wurden für einige von ihnen Abgüsse von lebenden Menschen verwendet. Dabei sind sie nach klassischem Vorbild aus Bronze gegossen. Doch während bei der traditionellen Plastik das Metall zwar poliert, oft auch patiniert wurde, aber in seiner Materialität erhalten blieben, sind die Figuren jetzt mit raffiniert realistisch bemalt und sogar mit echten Haaren ausgestattet. Die perfekte Mimesis ist das Ziel.
So könnte man von einer Verdoppelung der Alltagsrealität sprechen, doch wäre das eher dem Bereich der Werbung zuzuschreiben. Diese Figuren sind trotz ihrer Nähe zum menschlichen Leben keine Individuen, sondern Typen, und zwar Typen der Gesellschaft . Der Body Builder ist zugleich der Muskelfetischist schlechthin. Zudem beinhalten diese Figuren nicht selten eine psychosoziale Dimension. Der Fitnessfan prahlt nicht mit seinen Muskelpaketen, er macht deutlich, dass dahinter Arbeit steckt, eine Arbeit, die nicht unbedingt Vergnügen bereitet. Der Blick ist wie so oft bei Hansons Figuren leer, melancholisch bis unglücklich. Auch die Frau im Trenchcoat von Mathilde ter Heijne ist einsam, scheint ohne Ziel im Leben zu sein. In diesem Fall ist die Kombination von individueller Anmutung und psychosozialem Typus noch interessanter, da diese Niederländerin für ihre Figuren sich selbst zum Modell nahm.
Die Welt, der die meisten dieser Figuren entstammen, ist keine Welt der Freude. Der Obdachlose, den Peter Land auf seiner Schlafstatt aus lauter – echten – Kartons zeigt, lebt auf der Schattenseite der Gesellschaft. Zugleich hat Land den Körper durch eine Vielzahl von Kartons derart in die Länge gezogen, dass seiner Figur auch etwas Surreales zu eigen ist. Andere Künstler drücken dies durch Verzerrungen der Körper aus oder durch Verstümmelungen. Wieder andere fragmentarisieren den Körper, lassen aus einer Wand nur ein Bein ragen als pars pro toto für eine ganze Figur.
Daniel Firmans Gestalten sind voll bekleidet, verweigern jeden Einblick in ihr körperliches Dasein und verdecken daher sogar das, was der Mensch im Alltag normalerweise der Welt preisgibt: sein Gesicht.
Die Fähigkeit, menschliche Körper dank moderner Materialien und Techniken lebensecht zu gestalten, hat die Künstler zugleich zu einer Gegenbewegung animiert, etwa durch Verweise auf die Gefahren durch Genmanipulationen oder Geburtsfehler, indem der Betrachter beispielsweise mit einem überlebensgroßen Säugling konfrontiert wird.
Der Hyperrealismus, so sehr er auf die Oberfläche beschränkt zu sein scheint, kann auch dem Ausdruck innerster Gefühle dienen. Marc Sijan zeigt ein Liebespaar nackt in innigster Umarmung – ein Paar der älteren Generation, alles andere als strahlend frisch, eher ermattet, vor allem voller körperlicher Mängel, die das Alter mit sich bringt. Jede Hautunreinheit ist hier zu sehen, jede Krampfader und jede Hornhautpartie.
Und dann gibt es auch die Rückbesinnung auf die klassische Skulptur, von der viele dieser Figuren ja von ihrem Grundmaterial, der Bronze, auch herstammen. Xavier Veilhan verzichtet bei seiner Plastik auf jede Alltäglichkeit. Er zeigt einen klassischen Reiter, wie man ihn von den alten Griechen und Römern her kennt. Doch er konterkariert die klassische Tradition, indem er die Plastik, die mit Polyesterharz überzogen ist, rot lackiert und die Bearbeitungsspuren wie Rillen belässt. Die Künstlichkeit antiker Posen wird auf diese Weise mit modernen Mitteln intensiviert. Das freilich ergibt sich manchmal erst auf den zweiten Blick. Brian Booth Craig hat eine Amazone geschaffen: nackt nach antikem Vorbild, in gelassener edler Haltung und aus Bronze, wie es sich gehört. Doch hat er das Metall lückenlos und makellos mit Farbe überzogen, bronzefarben versteht sich, was bei näherer Betrachtung aussieht, als habe sich hier eine Schauspielerin für eine Amazonenrolle mit brauner Farbe eingestrichen. Das ist klassische Skulptur im 21. Jahrhundert: Typisiert und zugleich lebensnah, individuell und zugleich künstlich.
„Almost Alive. Hyperrealistische Skulptur in der Kunst.“ Kunsthalle Tübingen bis 21.10.2018. Katalog 145 Seiten 29.90 Euro