Ein Bild ist statisch, zweidimensional, kann Räumlichkeit allenfalls durch technische Hilfsmittel wie die Zentralperspektive andeuten. Die Schottin Georgia Russell kennt sich damit aus, sie hat an der Londoner Kunstakademie ihren Abschluss in Druckgraphik absolviert, und sie arbeitet seit rund zwanzig Jahren auch mit Flächen – bemalt oder bedruckt. Die Städtische Galerie Tuttlingen zeigt, dass das Resultat alles andere als flach ist.
Auf den ersten Blick, vor allem von vorn betrachtet, wirkt das wolkig graue Bild wie ein abstraktes Gemälde, was es auch ist. Georgia Russell hat in sich changierende Grautöne gewählt und dabei die Assoziation an Brachland gewonnen, Fallow, so der Titel der Arbeit. Auf diese graue Fläche, so scheint es, hat sie dünne dunkle und helle Striche gezeichnet.
Doch das alles ist Täuschung. Geht man nur einen Schritt zur Seite, erkennt man, dass das, was wie Striche aussieht, sich vorwölbt: Das Bild, bisher eine abstrakte große Zeichnung auf Leinwand, wirkt plötzlich, als bestünde es aus lauter Augenschlitzen, über denen sich große Wimpern befinden. Was wie eine Malfläche wirkte, entpuppt sich als eine Art Relief, ein sich in den Raum erstreckendes Kunstwerk.
Entstanden sind diese sich vorwölbenden Streifen durch präzise Schnitte mit dem Skalpell; Georgia Russell zeichnet gewissermaßen mit scharfer Klinge.
Anfangs rückte sie damit Büchern zu Leibe, die sie auf ihren Streifzügen bei den Bouquinisten an der Seine während eines Stipendienaufenthalts in Paris entdeckte. Sie schnitt die Seiten in dünne Steifen, ließ sie über das Buchformat in den Raum hinaushängen und gestaltete so fantastisch anmutende Gebilde, die mal an Paradiesvögel erinnern, die stolz ihr Gefieder in der Luft spreizen, mal an Köpfe, die von indigenen Völkern in Afrika oder Lateinamerika für religiöse Riten geschnitzt werden. In der Tat nennt sie viele dieser Arbeiten „Totem“.
Die Bücher sind als Ausgangsmaterial durchaus erkennbar, manchmal sieht man noch den geleimten Buchrücken, Und es sind nicht irgendwelche Bücher. Eine Arbeit trägt den Titel Belief, und wenn man genau hinsieht, weiß man sogleich, um welches Buch es sich handelt: die Bibel, denn man kann auf den Papierstreifen Fetzen bekannter Zitate erkennen. „It is more blessed to give than to receive“ liest man da auf zwei sich nebeneinander in der Luft wiegenden Streifen; geben sei seliger denn nehmen.
Auf diese Weise verwandelt sie das Objekt in eine Kunstform, eine Skulptur, was sie häufig auch dadurch deutlich macht, dass sie sie wie wertvolle Kunst unter eine Plexiglashaube setzt.
Dem bedruckten Papier blieb sie danach treu, nur veränderte sich die Form und auch die Ausdrucksform ihrer Arbeiten. Fotos oder bedrucktes Papier schnitt sie in längliche Streifen, dabei spannte sie nicht selten zwei oder drei Papier- bzw. Leinwandschichten dicht hintereinander und verknüpfte kunstvoll die in Streifen geschnittenen Schichten. Auf diese Weise wird die zweidimensionale Natur der großen bedruckten Flächen in die dritte Dimension überführt. Das Ergebnis sind ätherisch wirkende, wie von Zauberhand im Raum zum Schweben gebrachte Gebilde, die sich jeder Definition entziehen. Die Titel vermitteln eine Ahnung davon, was Georgia Russell bei ihrer Arbeit dabei empfunden haben mag. Rivulet heißt eine Serie, also Bächlein, eine andere verweist auf Lagunen, eine dritte auf Regen, und in der Tat eignet all diesen Gebilden, die mehr aus Luft denn aus Materie zu bestehen scheinen, etwas Fließendes. Alles scheint in Bewegung zu sein, obwohl in Wirklichkeit alles statisch ist, zumal viele dieser Arbeiten sich in Plexiglaskästen befinden, also keinerlei Luftzug ausgesetzt sind.
Wie überhaupt bei diesen Arbeiten nichts so ist, wie es scheint. Oft spannt Georgia Russell mehrere Leinwände so dicht hintereinander, dass man beim ersten Hinsehen gar nicht merkt, wie vielschichtig diese Arbeiten sind. Da die sehr großformatigen Leinwände oft von ihr selbst zuvor sehr kleinteilig bemalt wurden, entwickeln sie vor dem Auge ein flirrendes Leben.
Dabei hat Georgia Russell lange Zeit ihre farbigen Flächen zwar mit dem scharfen Skalpell bearbeitet, doch nichts herausgeschnitten. Genau genommen blieben die Flächen intakt, man könnte die in Streifen geschnittenen Flächen perfekt wieder zum Ganzen zusammenfügen.
Erst in den letzten Jahren hat sie damit begonnen, aus den farbigen Schichten Teile auszuschneiden. Ajouré heißt das dann nicht selten, durchbrochen. Aber auch hier wird nichts zerstört, geht nichts verloren. Die ausgeschnittenen Teile der einzelnen Bildschichten klebt sie auf farbige Flächen. Die Teile aus der vordersten Schicht sind klar erkennbar, die aus den dahinterliegenden Schichten weniger. Mit etwas Fantasie könnte man die ausgeschnittenen, also durchbrochenen Schichten mit den daneben hängenden Montagen wieder zusammenfügen, gemeinsam bilden sie für den Betrachter eine Art Vexierspiel von Ausschnitt und Ganzheit.
Auf diese Weise ist ihr nicht nur gelungen, die bemalte oder bedruckte Fläche von ihrer Verhaftung in der Zweidimensionalität zu befreien, sie hat zudem ein Wechselspiel von Materie und Licht geschaffen, ein Spiel, das sich nicht selten an der Wand, an der die Arbeiten hängen, fortsetzt. Und was an sich statisch ist, entwickelt bei ihr eine regelrechte Kinetik. Man muss als Besucher der Ausstellung nur beachten, dass Kunst nicht zuletzt im Auge des Betrachters liegt, und wenn sich das Auge bewegt, bewegt sich auch die Kunst.
„Georgia Russell. Ajouré – Lichtschnitte“, Städtische Galerie Tuttlingen bis 7.5.2023