Seine Romane spielen dort, wo man sich unterhält: in Salons, auf Spazierwegen. Henry James ist der Meister der Konversation. In seinen Romanen wird nicht gehandelt, da hält man die Augen offen – und redet über das, was man gesehen hat oder gesehen zu haben meint. So hat der Roman „Die Gesandten“, den James für seinen besten hielt, nur ein Thema. Der Amerikaner Lambert Strether, seit langem verwitwet, grundsolider Bürger der Vereinigten Staaten, steht vor seiner Verehelichung mit einer reichen amerikanischen Witwe, soll zuvor jedoch noch deren Sohn wieder auf den rechten Pfad bringen, was heißen soll: ihn den Fängen der verderbten französischen Gesellschaft (und deren Frauen) entreißen und ins puritanische Amerika zurückbringen.
Das wäre Stoff für eine Novelle, bei Henry James aber werden 700 Seiten Spannung daraus. Strether taucht ein in eine Welt, die er nicht versteht – und die er bis zum Ende des Romans nicht so richtig durchschauen wird, der Leser wird währenddessen Zeuge eines Transformationsprozesses: Der biedere Amerikaner verliert zunehmend den so sicher gewähnten Boden unter den Füßen, alte Gewissheiten werden in Frage gestellt, neue Erfahrungen allerdings nicht minder. Strethers Europamission wird zum Selbsterfahrungstrip, zu einer abenteuerlichen Reise zwischen den Welten – so wie sie Henry James sein Leben lang erlebt hat: Mit seinen Eltern zog er schon als Kind zwischen der Alten und der Neuen Welt hin und her, als angehender Schriftsteller ließ er sich in good old Europe nieder, um den Amerikanern die Lebensweise der so ganz anderen Welt nahezubringen, und als Romancier tauchte er so tief in die Gedanken- und Gefühlswelten der so unterschiedlichen Mentalitäten ein wie kaum ein zweiter. Am Ende nahm er sogar die britische Staatsbürgerschaft an. Zahlreiche seiner Romane sind Porträts zweier Gesellschaftstypen, die ihre Mitglieder unauslöschlich prägen: Auf der einen Seite die lebenstüchtigen, materiell erfolgreichen Amerikaner, denen aber jeder Sinn für die Finessen des Lebens fremd sind, auf der anderen Seite eine Gesellschaft im Niedergang, die nicht selten in durch Jahrhunderte gefestigten Floskeln erstickt, zugleich aber mit ihrem Sinn für Kultur offen ist für die Nuancen des Lebens – so offen wie der Autor selbst. Zwei Werke drücken diese Antagonismen bereits im Titel aus: In dem für James ungewöhnlich dünnen Roman „Die Europäer“ mischen die mittellosen, aber für amerikanische Augen durch einen Adelstitel hervorgehobenen Europäer die neuenglische Gesellschaft auf, bleiben am Ende aber nicht unaffiziert durch deren Qualitäten. In „Der Amerikaner“ scheitert ein tüchtiger Vertreter der Neuen Welt an einer für seine Augen problemlosen Liebe zu einer europäischen Adligen, bis er spüren muss, dass einem Vertreter seiner Welt ein Eindringen in die geschlossene Sphäre Europas unmöglich ist.
Selten bezieht James klar Position. Sowohl die Vertreter der amerikanischen Tüchtigkeit wie auch die der europäischen Kulturverliebtheit werden mit leisem Spott bedacht, gelegentlich auch mit Verachtung – doch zum klaren Kampf zwischen den unvereinbaren Positionen kommt es in den seltensten Fällen. Selbst der „Amerikaner“ muss einsehen, dass Kampf zwecklos ist.
Alles vollzieht sich in den Bahnen gesitteten Benehmens – und im Gespräch bzw. dem Gegenteil davon: dem Schweigen. Schon in seinem frühen Roman „Washington Square“, der jetzt in einer neuen Übersetzung vorliegt, hat James analysiert, wie leicht gut gemeinte Sorge für den Nächsten das Leben aller zerstören kann. Dabei scheint in diesem Fall der Vater alles Recht auf seiner Seite zu haben. Er ist überzeugt davon, dass der junge Mann, der sich um seine Tochter bemüht und sie zum ersten Mal zum richtigen Leben erweckt, ein Luftikus und Schürzenjäger ist, dem es nur um deren Erbschaft geht. Aber auch die Tochter Catherine hat Recht, wenn sie an ihrer neu erwachten Liebe festhalten will. Am Ende stirbt der Vater verbittert, bleibt Catherine allein zurück – und widmet sich ihrer Häkelarbeit. Sturheit hat zwei Leben zerstört. Geschildert werden solche Tragödien auf der scheinbar harmlosen Ebene der Konversation.
Das alles wird in knappen Szenen mit einer Ökonomie erzählt, die mit dem, was der Leser vom Roman des 19. Jahrhunderts gewohnt ist, nichts zu tun hat. Doch Henry James ist eben, auch wenn er mit beiden Füßen in der Welt dieses Jahrhunderts steht und eindeutig deren Welt schildert, kein Autor seiner Zeit. Während sich seine Kollegen in Schilderungen der äußeren Welt ergehen, beschränkt er sich auf wenige Details des Sichtbaren. Sein Blick geht tiefer, dringt in die innersten Verwicklungen der Psyche vor. Damit steht er an der Schwelle zum Roman des 20. Jahrhunderts, und mit seiner Seelenkenntnis ist er eher ein Verwandter eines Marcel Proust denn eines Charles Dickens.
Bei James gibt es keine unhinterfragbaren Gewissheiten, alles kommt auf die Waagschale. Seine Erzähler, die den Leser einführen in die Welt der Salongespräche, sind alles andere als allwissende Beobachter. Alles, was wir von ihnen erfahren, sind Spekulationen, die schon nach wenigen Seiten, manchmal gar wenigen Sätzen als Irrtum entlarvt werden können, ohne dass man dann genau wüsste, ob die neue Erkenntnis tatsächlich der Weisheit letzter Schluss wäre. „Die Eindrücke einer Cousine“ heißt eine seiner zahlreichen Erzählungen – ein Titel, wie er nichtssagender – und damit zugleich aufschlussreicher für diesen Autor kaum sein könnte. Geschildert werden nicht die Ansichten von „Cousine Bette“, wie ein Balzac es sich vorgenommen hätte, sondern die „einer“ Cousine“, und geschildert werden nicht Erkenntnisse, sondern vage Spekulationen. In der Erzählung „In the Cage“ gar ist die Person, durch deren Auge wir das Geschehen wahrnehmen, eine namenlose Angestellte in einem Telegraphenamt, die ihre Spekulationen von der beschränkten Sicht ihrer Schalterzelle aus entwickelt.
Der Leser von James‘ Werken ist wie der Erzähler dieser Geschichten Beobachter, gar Voyeur – und ist am Ende der Lektüre reicher als bei den meisten anderen Schriftstellern, denn James‘ Offenheit für Details, sein Vertrauen darauf, dass in kleinsten Nuancen ganze Welten verborgen sein können, ist eine Schule für das Sehen und Fühlen seiner Leser. Die mögen manchmal verzweifeln bei den oft langwierigen und vertrackten Spurensuchen im Dickicht der Andeutungen, doch sind sie am Ende Meister im Entdecken von Nichtigkeiten, die die Welt bedeuten können, weil sie offen geworden sind „für die leisesten Andeutungen des Lebens“, wie James in seinem Aufsatz über „Die Kunst des Romans“ formuliert hat, weil sie fähig geworden sind, „die leisesten Schwingungen der Luft in Offenbarungen“ zu verwandeln, so wie Lambert Strether am Ende seiner Botschafterreise zwar weder das ihm auferlegte Ziel erreicht hat, noch selbst zu einer neuen Zukunft aufbrechen kann, aber Augen und Ohren geöffnet hat für eine Welt, die ungleich reicher an Bedeutungsmöglichkeiten ist, als er es sich daheim in Massachusetts hätte träumen lassen – und der Leser durfte daran teilhaben.
Henry James. „Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Erzählungen„. Manesse Verlag, Zürich 2015. 405 Seiten, 26,95 Euro.
Henry James. „Washington Square“. Manesse Verlag, Zürich 2015. 288 Seiten, 24,95 Euro
Henry James. „Die Gesandten“ Hanser Verlag, München 2016. 704 Seiten, 39.90 Euro