Das höchste Gebäude der Welt steht in Dubai und überragt den zweithöchsten Turm der Erde um immerhin fast zweihundert Meter. Ob er der höchste bleiben wird, ist zu bezweifeln, denn die Geschichte des Turms ist seit Jahrtausenden mit dem Immer-höher verbunden. Der Turm ist der Inbegriff des Strebens nach oben, damit Symbol des Faustischen im Menschen, des Strebens nach Überblick, aber zugleich auch Symbol der Selbstüberhöhung, vielleicht auch Selbstüberschätzung, der Überheblichkeit, die nicht selten in den verschiedenen Erzählungen vieler Kulturen und Literaturen mit einem Scheitern einhergeht. Die pro arte Stiftung Biberach zeigt nun, wie der Turm Künstler unserer Tage inspiriert hat: Getürmt.
Natürlich fehlt der berühmteste und zugleich berüchtigtste Turm zumindest der christlichen Kultur nicht, der Turm zu Babel. Bei dem von Klaus Hack aus Holzteilen geschnitzten Turm freilich hat man den Eindruck, eine von Gott gesandte Sprachverwirrung zur Verhinderung des Weiterbaus wäre gar nicht nötig, denn der Turm läuft so spitz aus, dass ein Weiterwachsen kaum denkbar ist.
Dabei gehört zum Turm doch gerade das himmelwärts Strebende, er ist ein Symbol für das Immer-höher-hinaus, was sich ja auch im Begriff „Wolkenkratzer“ ausdrückt. Auch der von Jürgen Knubben aus lauter sich nach oben verjüngenden stählernen Sechsecken muss irgendwann einmal an seine Grenze kommen, ganz im Gegensatz zu Knubbens Obelisk II B. Er besteht aus übereinander gesetzten Dreieckselementen, die jeweils leicht versetzt sind, sodass man meint, die Säule schieße geradezu in die Höhe; ein Ende scheint nicht absehbar. Zugleich verleiht diese Konstruktion der Säule aber auch etwas Instabiles, die Säule scheint jeden Augenblick kippen zu wollen. So vereint Knubben meisterhaft das Streben, das dem Turm symbolisch zu eigen ist, mit der Gefährdung, die ein Immer-höher in sich birgt.
Natürlich fehlt auch die Turmkatastrophe unserer Tage nicht, der Anschlag auf die Twin Towers in New York. Freilich bleibt Lothar Serusets Arbeit zu dieser Katastrophe mit einem im Hochhaus steckenden Flugzeugmodell allzu eindimensional auf den Anschlag bezogen und wirkt allzu harmlos. Das ist bei einigen Arbeiten von Martin Spengler ganz anders. Er bezieht sich zwar nicht auf 9/11, sondern stellt die Gefahr eines Einsturzes ganz generell dar, die Arbeiten können aber auch darauf bezogen werden. Sollbruchstelle heißen diese Arbeiten, in denen Hochhaustürme an einer Stelle einfach einknicken. Das wirkt umso bedrohlicher, als nicht einsehbar ist, was dazu geführt haben kann, und der Titel macht sogar deutlich, dass ein solches Einstürzen geradezu in der Natur von Türmen generell liegt. Das Einknicken ist umso plausibler, als diese Türme aus Wellpappe gebastelt sind, die Spengler erst zu dicken Schichten übereinander klebt und dann mit dem Skalpell zur Reliefskulpturen bearbeitet. Dabei wirken diese Gebilde durch die Graphitschicht, mit der die Pappe überzogen ist, als ob sie aus Stein gebaut wären.
Fragil, weil oft schief in die Höhe ragend, wirken auch die Türme von Stephan Hasslinger, während der Turm aus unzähligen Wellpappekartons von Andrea Kernbach gar nicht stehen könnte, wäre er an der Spitze nicht an die Wand gelehnt.
Fragil müssten eigentlich auch die Türme von Reiner Seliger sein. Er baut sie aus lauter Bauteilen wie etwa kleinen Ziegeln auf und knüpft mit einem solchen Material an die uralten Turmarchitekturen früherer Kulturen an. Dabei baut er zwischen die Festteile aber immer wieder Lücken ein, sodass der Turm einsturzgefährdet sein müsste, aber interessanterweise einen vollkommen stabilen Eindruck macht. Seligers Türme scheinen sicher, obwohl sie buchstäblich „lückenhaft“ errichtet sind. Und aus dem Inbegriff des gefährdeten Turms, dem schiefen Turm von Pisa, gelingt ihm sogar ein Turm, der vollkommen standfest und sogar gerade ist. obwohl er aus lauter kleinen schiefen Souvenirtürmen aus Kunststoff, die man in Pisa kaufen kann, zusammengebastelt ist.
Damit ein Turm sicher wirkt, muss er nicht stabil gebaut sein. Die Türme von Gerd Kanz bestehen mehr aus Löchern als aus Baumaterial, und stehen doch felsenfest. Es sind geradezu transparente Türme, die nichts vom Gefängnischarakter an sich haben, der Türmen oft zugesprochen wird wie etwa im Märchen von Rapunzel. Solche Türme gewähren Durchblicke und haben nichts Bedrohliches an sich, was man Türmen, die vor einem in die Höhe ragen, durchaus nachsagt. Matthias Mansen zeigt, dass dafür nicht einmal hohe Türme nötig sind. Er ließ in der Potsdamer Straße in Berlin den Blick an den Hausfassaden nach oben schweifen und schuf im Holzschnitt Visionen existentieller Bedrohung. Hier fühlt man sich eingesperrt, obwohl man auf der Straße steht, also im Freien, und nicht in einem Wohnblock.
Ganz anders die Hochhaustürme von Luis Dilger. Grundlage waren für ihn die Luftaufnahmen, die Google Earth etwa von New York oder Chicago zur Verfügung stellt, die er am Computer so bearbeitet, dass jedes Gebäude einzeln herausgemeißelt erscheint. Da wirken selbst die höchsten Wolkenkratzer niedlich und harmlos. Es kommt eben auf die Perspektive an.
„Getürmt. Turmmotive in der Gegenwartskunst“, Galerie der Stiftung BC – pro arte bis 26.11.2021. Katalog 95 Seiten, 8 Euro