Eine Kuh, die auf dem Bild eines Milchmädchens den größten Raum einnimmt – das wäre vor 1500 in der Kunst kaum denkbar gewesen; der Niederländer Lucas van Leyden zeigte 1510, dass das möglich sein kann. Ein dicker Schlüsselbund am Ärmel einer Frau macht deutlich, dass sie und nicht der Koch an ihrer Seite das Sagen hat; Albrecht Dürer hatte damit 1496 mitten in das Alltagsleben gegriffen und ein Zeichen gesetzt. Die Staatsgalerie Stuttgart dokumentiert mit einer neuen graphischen Ausstellung einen kunsthistorischen Wendepunkt; sie vereint zwei Künstler, die zukunftsweisend sein sollten: Albrecht Dürer und Lucas van Leyden – der Deutsche eine knappe Generation älter als der Niederländer.
Lucas van Leyden. Das Milchmädchen. Staatsgalerie Stuttgart
Beide hatten voneinander gehört, beide trafen sich in Antwerpen 1521. Da war Dürer bereits ein arrivierter Künstler von fünfzig Jahren, Lucas ein aufstrebendes Talent von siebenundzwanzig, das dem älteren Kollegen nacheiferte, auch das zeigt diese Ausstellung: Die Kunstszene in jenen Jahrzehnrten war international vernetzt. So kannte Lucas van Leyden Dürers Arbeiten sehr wohl. Beide widmeten sich ähnlichen Motiven – und der Vergleich zeigt: Lucas griff auf, was Dürer in seinen Bildern erfunden hatte, und schuf doch etwas Eigenes. „Adam und Eva“ bei Dürer beispielsweise sind wohlgeformte Idealgestalten; Dürer setzte sich minutiös, geradezu wissenschaftlich, mit der menschlichen Gestalt auseinander, wie einige Körperstudien in der Ausstellung belegen, auf denen Dürer mit Zirkel und Lineal die Proportionen von Körper und Gliedmaßen berechnete. Lucas van Leyden konnte darauf verzichten; er baute auf dem auf, was sein erfahrener Kollege aus Deutschland erkundet hatte. So ging er mit dem alten biblischen Motiv auch ungleich freier um: Bei ihm kommt Eva einer Hure sehr nahe, die ihrem Adam den kaum verhüllten Schoß lockend öffnet. Das findet sich bei Dürer so nicht, er war doch noch stärker in der biblischen Bildtradition verhaftet.
Aber auch er hatte sich längst dem Alltag seiner Zeit zugewandt, selbst bei vordergründig biblischen Motiven wie dem Gleichnis vom Verlorenen Sohn. Hier meint man geradezu, die Schweine grunzen zu hören, so naturgetreu sind sie bis in die einzelnen Borsten hinein porträtiert.
Dürer, Der verlorene Sohn, um 1496. Staatsgalerie Stuttgart
Neugierig drängeln sie sich um einen jungen Mann, der in der Fremde, in die er vom väterlichen Hof ausgezogen ist, auf dem Tiefpunkt abgelangt ist, als Schweinehirt. Und doch ist es nicht nur eine private Szene, sondern die bilische Geschichte, die Dürer hier illustriert hat – allerdings auf seine eigene Art. Dürer gestaltet die Szene ganz aus der Perspektive und dem Schicksal des Sohnes, der seinen Vater verlassen hatte und in der Fremde kläglich gescheitert war. Dürer macht aus der biblischen moralischen Erzählung eine rein menschliche Szene, er holt die Bibel in die Gegenwart seiner Zeit, orientierte sich für den Bauernhof an Bauten in seiner Nürnberger Heimat.
Die Erzählung von Salome, die durch einen aufreizenden Tanz von König Herodes den Kopf des Propheten Jochanaan als Geschenk erhält, findet bei Dürer ganz in seiner Zeit statt: Salome trägt Gewänder aus seiner unmittelbaren Heimat. Und Dürer widmet sich den alltäglichen Szenen seiner Umwelt: Ein tanzendes Bauernpaar ist detailliert porträtiert, nicht als Teil einer großen Genreszene wie etwa einer Bauernhochzeit, sondern als einzelnes Paar: Dürer stellt Individuen dar, die er zuvor genau studiert hatte. So gelang ihm nicht selten eine Gratwanderung: Gestaltet er ein „Ungleiches Paar“, in dem ein alter Herr mit einem prall gefüllten Beutel ein junges Mädchen zu ködern versucht, ist das Alltag und moralischer Fingerzeig in einem, denn hinter den beiden lauert ein Totengerippe als Warnung vor Geschlechtskrankheiten, und ein Baum windet sich fast so, als wäre er eine verführerische Schlange. Diese moralischen Hinweise fehlen bei vergleichbaren Szenen des jüngeren Lucas van Leyden. Er widmet sich so alltäglichen Motiven wie dem Besuch beim Zahnarzt.
Beiden gemeinsam ist eine faszinierende Beherrschung aller druckgraphsichen Techniken, mit denen sie derart lebensnahe Szenen zu gestalten wussten. Die Arbeiten entstanden kurz vor oder nach 1500 und führen ein in eine Zeit des Umbruchs, in dem die Lebenswelt des Alltagsmenschen die Kunst eroberte. Dürer bereitete den Weg und führte ihn zugleich faszinierend zur Blüte, sein jüngerer Kollege in den Niederlanden folgte ihm und ging diesen Weg weiter.
„Albrecht Dürer und Lucas van Leyden. Kunst und Leben um 1500“. Staatsgalerie Stuttgart bis 15.2.2016. Ein Onlinekatalog im Internet erläutert ausführlich und anschaulich jede der 52 Graphiken. Die Ausstellung beschränkt sich leider auf die schlichten Angaben zu Titel, Technik und Entstehungsdatum und verweist auch nicht auf die Informationen im Internet – eine vertane Chance für den Besucher, denn die Vorarbeit für einen vorzüglichen kleinen Katalog ist ja getan.
Horst Simschek und ich haben auf Youtube ein Künstlerporträt von Jörg Bach veröffentlicht: