Von allen literarischen Formen ist das Gedicht die komprimierteste, und unter allen Gedichten ist das Haiku das dichteste. In deutscher Sprache gerade einmal siebzehn Silben auf drei Zeilen verteilt, ein Nichts, ein Hauch an Worten, eine Fülle an Anspielungen, die der Leser in Assoziationen verwandeln muss – die Minimal Art unter den Dichtwerken. Und Werner Pokorny, der Bildhauer, ist in der bildenden Kunst ein Minimal Artist, nicht weil er in die Gruppe der Sol Lewitts, Dan Flavins oder Donald Judds gehörte, sondern weil er sich wie nur wenige Künstler Jahrzehnte lang auf wenige Formen beschränkt hat wie das Haus oder die Schale. Ein Künstler wie er scheint geradezu auf eine Begegnung mit der Minimal Art der Dichtung gewartet zu haben, jetzt liegt sie vor, mit Haikus von Jürgen Glocker.
Ein schwarzer Fleck mit einem kleinen Loch, einer Öffnung vielleicht? Daran ein luftiges Gebilde – der Henkel einer Handtasche oder die Umrisse eines Gebäudes. Auf den Rest des Blattes verteilt einige schwarze Punkte – minimaler geht es kaum mehr, was Werner Pokorny da zu Papier gebracht hat, es wirkt abstrakt, fern und reizt doch gleich zu Interpretationensversuchen. Gezeichnet sind die Gebilde mit Tusche, wie sie die großen Meister früherer Jahrhunderte in Japan verwendet haben. Und Jürgen Glocker geht mit dem ersten Haiku in dieser Sammlung offenbar auf dieses Bild ein:
„Wir zeichnen Häuser“
beginnt es, um sogleich in eine Philosophie des Lebens zu münden:
„wir ziehen ein, radieren
dann und gehen weg.“
Das ist ein perfektes Haiku, eine subtile Weiterführung der Pokornyschen Zeichnung, und doch zugleich etwas ganz Neues, denn das traditionelle japanische Haiku kreist in der Regel um einen Naturgegenstand, umreißt eine Situation, die Emotionen spiegeln sich in beidem. Auch bei Glocker steht am Anfang häufig ein konkretes Ding, doch er baut das nicht aus, sondern schreitet meist bereits in der zweiten Zeile weiter, deutet Entwicklungen an, Geschehnisse, verweist in gedankliche Bereiche. Ist das japanische Haiku ein Naturgedicht, ist es bei Glocker in vielen Fällen ein philosophisches. Und zugleich geht er über das von Pokorny in der Zeichnung angedeutete Haus hinaus. Als habe er in dem dunklen, das Bild beherrschenden Tuschefleck einen Quell unausgesprochener Wahrheiten erahnt, weitet er das Bild vom Haus zum Lebensbild aus.
Natürlich bleibt auch Glocker in vielen seiner Gedichte bei der alten Tradition, bei einem Bild, das sich aus wenigen Andeutungen zusammensetzt, aber letztlich im Leser „nur“ ein Bild heraufbeschwört, ein Bild, in dem sich viele Dimensionen vermengen.
„Weiße Dämmerung,
und dann auf schmalen Pfaden
durch ein Königreich“
Das ist die Vorstellung einer weißen, unberührten Schneefläche, angereichert durch Traumvisionen, Emotionen, Märchenanklänge. Es ist Ausdruck von Einsamkeit, aber auch Zugehörigkeit. Das ist eine fremde, abweisende Welt, die doch das Ich einlädt, sie zu betreten. In solchen Gedichten weiß Glocker um die Beschränkung, die im Haiku liegen, und zugleich um die Möglichkeit eines Reichtums, die gleichfalls in ihm liegt. Und er weiß um die Ausdrucksmöglichkeiten des Rhythmus. Schon im eingangs zitierten Text ist der Zeilenbruch entscheidend: „wir ziehen ein, radieren“; wenn jetzt die Zeile wechselt zum „dann“, liegen Welten des Zögerns darin, als sei man sich des Aberwitzes bewusst, der in diesem Ausradieren liegt, und doch auch der Chance, die darin liegt, denn mit dem „dann“ der folgenden Zeile erhält das Vorhaben ungeahnten Schwung und Elan.
Häufig aber löst sich Glocker von den Naturbildern, charakterisiert in knappen Worten ein ganzes Phänomen, etwa wenn er das Wesen Franz Schuberts in sechs Wörter fasst: „Dieses Glück, verhakt mit aller Wehmut“.
Und Glocker dichtet über Dichtung, beschreibt, wie sich Wort zu Wort fügt, der Dichter sich auf einer Reise über einen See befindet und mit den Rudern den Texttakt schlägt. Ergänzt werden solche Gedankenreisen durch Pokornys gleichfalls lakonische Tuschezeichnungen. Eine energisch in die Höhe wirbelnde Spirale mündet in den Umrisslinien eines Hauses – das ist Dichten, wie Glocker es definiert, nur nicht mit Worten, sondern mit dem Pinsel.
Der Eindruck, hier wären zwei Künstler mit ihren Mitteln aufeinanderzugegangen, täuscht allerdings. Pokornys Zeichnungen sind unabhängig von Glockers Texten entstanden, wenn sich der Eindruck von passender Übereinstimmung ergibt, ist das wohl das Werk eines Lektors, und Glockers Texte verdanken sich nicht der Auseinandersetzung mit Pokornys Arbeiten, sondern eher der Begegnung mit Texten von Peter Huchel.
Leider ist man in dieser Textsammlung immer wieder konfrontiert mit Texten, die zwar der japanischen Tradition eines Bildes folgen, aber doch von geringer Aussage sind. Man kann es niedlich finden oder auch unangenehm, wenn ein Igel auf die Terrasse „ferkelt“, doch mit einem „wie schön“ führt man ein solches Bild nicht weiter, und wenn dann lediglich noch „Wind in den Bäumen“ ist, fragt man sich, wie ein Autor, der so tiefe knappe Haikueinsichten zu Papier gebracht hat, auch solche Texte dem Druck anvertraut. Viele Eindrücke, die Glocker in drei Zeilen bannt, wirken zudem allzu subjektiv, privat, verweigern sich der Deutung, etwa wenn er immer wieder ein Mann namens Lama in seinen Texten auftreten lässt. Einhundertzwanzig Haikus versammelt der Band – für einen japanischen Dichter fast ein Lebenswerk, zu viele wohl für einen einzelnen Band, der gleichwohl immer wieder überrascht und fasziniert mit einfachen und doch komplexen Einsichten:
„Wie lang haust man in
einem Wort, Satz? Werden die
Kammern stets heller?“
Jürgen Glocker: Ein Haus aus Wörtern. Haiku, mit Zeichnungen von Werner Pokorny, Morio Verlag, Heidelberg 2016, 64 Seiten, 19,95 Euro