Graphik mit dem Fotoapparat – Albrecht Fendrich und der Rottweiler Testturm

Die Stadt Rottweil kann zwei Superlative für sich beanspruchen: Sie ist die älteste Stadt Baden-Württembergs und besitzt mit dem siebzig Meter hohen Kapellenturm dem Urteil des Kunsthistorikers Georg Dehio zufolge den „schönsten Turm zwischen Prag und Paris“. Nun kommt ein dritter Superlativ hinzu, und der Kapellenturm erhält, zumindest was die Höhe betrifft, Konkurrenz in einem Turm unserer Tage: dem ThyssenKruppTestturm für Aufzüge mit insgesamt 246 Metern Höhe. Die Bauarbeiten während der letzten zwei Jahre hat im Auftrag des Landkreises Rottweil ein Mann mit dem Fotoapparat begleitet, Albrecht Fendrich. Das Resultat ist freilich alles andere als eine Dokumentation eines Turmbaus von heute.

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                                                              Turm und Stadt bei Nacht

Gestochen scharf hat Albrecht Fendrich zu Beginn der Aushubarbeiten die erste Ringschalung mit der Kamera festgehalten – so scharf, dass man meint, jede Erdkrume einzeln erkennen zu können. Das ist mehr als Fotografie in HD-Qualität, das kippt bereits um in einen Hyperrealismus, und Fendrich hatte ja auch gar nicht vor, als Dokumentarfotograf die Entstehung des Turms zu verfolgen. So verzichtete er auf jegliche Farbe – obwohl die Fotos, wie er sie festhielt, durchaus Farbfotografien waren. Am Computer entzog er den Aufnahmen dann die Farbe. Dadurch nahm er dem Geschehen in der Erde gleich von Anfang an den Charakter der Wirklichkeitswiedergabe, und durch die Verstärkung des Kontrastes wurde aus dem schlichten Motiv eine geradezu geheimnisvoll anmutende Welt.

Fendrich ist kein herkömmlicher Fotograf, er hat dieses Medium zunächst überhaupt nicht angestrebt, sondern Ende der 80er Jahre in Stuttgart Malerei bei K.R.H. Sonderborg studiert und dabei vielleicht seine Affinität zu technischen Phänomenen unserer Zeit entdeckt, denn Sonderborg wählte als Ausgangspunkt für seine abstrakt anmutenden Bilder nicht selten die Oberleitungen der Straßenbahnen, und Fendrich sucht sich als Arbeitsplätze gern Flughäfen, Autoverkehr bei Nacht, Autobahnraststätten aus – und jetzt eben die Baustelle des Rottweiler Turms. Dabei fotografiert er bevorzugt nachts und kehrt dann die Lichtverhältnisse um, indem er meist nicht die Positive als Fotoergebnis präsentiert, sondern die Negative. Bei seinem neuesten Projekt allerdings mischte er beides: Tag- und Nachtaufnahmen, Positiv und Negativ. 02_albrechtfendrichgleitschalunghalbrund2015-900x598                                        Gleitschalung halbrund

Im Negativ erhalten die Baubagger, gemeinhin nicht unbedingt die ästhetischsten aller Baugeräte, eine geradezu magische Qualität: Schemenhaft scheinen sie wie aus einer fremden Welt in unseren Alltag eingedrungen zu sein. Wenn Fendrich die langen stählernen dünnen Armierungen des Turms im Negativ zeigt, dann sind es nicht massive Metallstäbe, sondern weiß strahlende Linien. Hier wird dem Auge sinnfällig deutlich, dass Fotografie Lichtkunst ist.

Vor allem zeigen seine Bildexperimente, dass es sich bei dem Verhältnis von Positiv und Negativ keineswegs nur um die Umkehrung von Lichtwerten handelt – es wird nicht einfach nur weiß, was in der Realität schwarz ist, und umgekehrt. Die nunmehr weißen Phänomene sind aller Materialität entkleidet, wirken ätherisch, schwerelos. Wenn Fendrich dasselbe Motiv – einen Blick von oben in die unendliche Tiefe des Turminneren – nebeneinander als Positiv und Negativ präsentiert, dann zeigt er zwei Welten, die nichts miteinander gemein zu haben scheinen. Unter seinen Händen werden aus den Realitäten dieser Welt reine Bildphänomene, die eigenen Gesetzmäßigkeiten zu gehorchen scheinen. Selbst so banale Naturereignisse wie Schneeflocken wirken auf seinen Fotos wie kosmische Erscheinungen – man denkt an dichte Sternschnuppenwolken oder Meteoritenschwärme, nicht aber an Schneeflocken auf einer Baustelle.

Bei Fendrich verliert die Fotografie das, was sie vornehmlich auszeichnet: ihre Wiedergabefunktion. Durch die Grauwerte seiner Arbeiten meint man, Kohlezeichnungen vor sich zu haben, Graphiken, die abstrakten Gestaltungsgesetzen folgen, Innenräume, die an die surreal anmutenden geheimnisvollen Kerker eines Piranesi denken lassen. Der Fotograf Fendrich kehrt mit solchen Arbeiten zu diesem Turmbau zu seinen künstlerischen Anfängen zurück, der Zeichnung. 05_albrechtfendrichturmwaechstunterirdisch2015-900x599                                       Turm wächst unterirdisch

Er deckt Rhythmen in den Linien auf, die sanft rieselnde Wasserströme auf dem Beton zeichnen, er schafft samtig schwarze Flächen, wo in der Realität nur Stahlbeton ist, er zeichnet mit dem Medium Fotografie. Bei Fendrich ist der Fotoapparat das, was der Pinsel in der Hand des Malers, der Stift in der Hand des Zeichners ist: ein Instrument zur Herstellung von Bildern, die – fast möchte man formulieren, „zufällig“ – eben auf einer Baustelle zu Rottweils höchstem Turm entstanden sind, den Betrachter aber weit weg in andere Realitätssphären entführen und zu Reflexionen anregen – über das Wesen von Fotografie, über Kunst und Welt, über Realität und Abstraktion.

Albrecht Fendrich und der Turm“, Forum Kunst, Friedrichsplatz, Rottweil bis 1.1.2017

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