Glücklose Paare: Junge Choreographen am Stuttgarter Ballett

Dass viele Choreographen als Tänzer angefangen haben, ist verständlich, schließlich haben sie durch ihre tägliche Arbeit intensiven Zugang zu den Ausdrucksmöglichkeiten des Tanzes. Dass bei vielen Großen des modernen Balletts die Anfänge in Stuttgart liegen – ob es nun Jiří Kylián, John Neumeier, William Forsythe, Uwe Scholz, oder Marco Goecke sind, um nur einige wenige aus der großen Zahl zu nennen, ist freilich kein Zufall, denn in Stuttgart gibt die Noverre-Gesellschaft, die 1958 gegründet wurde, seit 1961 Tänzern Gelegenheit, selbst Choreographien zu kreieren und aufführen zu lassen. In diesem Jahr haben sieben TänzerInnen die Chance ergriffen, und weil die Aufführung coronabedingt nicht vor Publikum stattfinden kann, ist sie erstmals weltweit zu erleben, als Video on Demand: Junge Choreographen.

Jessica Fyfe: Peace Apart. Tänzer: Jessica Fyfe, Moacir de Oliveira © Stuttgarter Ballett

Es beginnt tänzerisch hochgradig ästhetisch und zugleich thematisch spannend mit einer Choreographie von Jessica Fyfe, die in ihrem eigenen Ballett auch tanzt. Zu Beginn befreit sie sich drehend aus einer breiten Stoffbahn, in die ihr Körper gewickelt ist, und diese Stoffbahn dient ihr und ihrem Partner Moacir de Oliveira sowohl als Verbindungsmedium als auch als trennendes Element, schließlich geht es um die Frage, inwiefern Nähe, Begegnung, Beziehung zwischen zwei Menschen möglich ist. Dieses wichtige Thema wird freilich nicht ohne Augenzwinkern abgehandelt. So beginnt Moacir de Oliveira im Mittelteil zu Chopins Cellosonate einen virtuosen Schautanz, der seine Partnerin, mit der er eben noch durch die Stoffbahn verbunden war, allein lässt, was den Cellisten offenbar empört, denn er bricht sein Spiel ab, sieht den Tänzer vorwurfsvoll an und tritt ab. Was diesen dann bei einem Nocturne von Chopin, das sich die Tänzerin vornimmt, veranlasst, von der Bühne zu gehen. Ist Frieden für den einzelnen nur getrennt möglich? Titel und Choreographie scheinen das nahezulegen: Peace Apart.

Hatte sich das Stück von Jessica Fyfe tänzerisch weitgehend in klassischen Sphären bewegt – mit Spitzentanz und kraftvollen Sprüngen -, zeigt Aurora De Mori, dass Tanz beileibe nicht nur aus Beinarbeit und Hebungen und Sprüngen besteht. Ihre Tänzer bleiben streckenweise ruhig auf dem Boden stehen, dafür setzen sie ihren ganzen Körper als Ausdrucksmittel ein. Das kann mal witzig aussehen, wenn Tänzer mit Zylindern wie mit Partnern umgehen, mal existentiell tiefschürfend, wenn es darum geht, sich mit seinem Körper auseinanderzusetzen, ihn buchstäblich in den Griff zu bekommen. Sie hat dafür ein sehr abwechslungsreiches Spektrum an Körperverrenkungen erfunden. Die Körpersprache macht einen Großteil dieser Choreographie aus und wie bei Jessica Fyfe auch das Bestreben, in der Partnerschaft mit anderen die Erfüllung zu finden, aber zugleich auch immer wieder Neues zu versuchen, wie ein von ihr verfasstes Gedicht nahelegt, das dem Stück den Titel gab – Ajna – und zwischen den Musikteilen auf italienisch rezitiert und von den Tänzern aufgegriffen wird, als wäre es Musik.

Diese Suche nach enger Gemeinschaft prägt die Arbeit von Vittoria Girelli. Bei ihr sind die Körper der fünf Tänzer fast ineinander verknotet, und die junge Choreographin findet erstaunliche Variationen dieser Körperbewegungen.

Vittoria Girelli: Kineograph. Tänzer: Hyo-Jung Kang, Fabio Adorisio, Henrik Erikson, Rocio Aleman, Timoor Afshar © Stuttgarter Ballett

Es ist ein fast verzweifelt wirkender Versuch, immer neu die Gemeinschaft heraufzubeschwören. Diese Verzweiflung weicht dann im Mittelteil zu Beethovens Sonate 3 für Violoncello und Klavier. Hier beginnen die Tänzer plötzlich dem witzigen Duktus der Musik entsprechend locker miteinander umzugehen. Was sie da in perfekter Harmonie mit der Musik vollführen, wirkt wie ein heiteres Spiel von ausgelassenen Kindern, das freilich Episode bleibt; der Ernst de Lebens, mit dem das Stück begann, bestimmt auch das eindrucksvolle Ende. Bleibt die Frage, was mit dem Titel gemeint sein soll: Kineograph.

Das Stück Deltangi von Timoor Afshar wirkt, als gebe sich ein Tänzer seinen Erinnerungen hin. Abseits von den beiden anderen Tänzern zieht er ganz in sich versunken seine Kreise, während die beiden versuchen, zu Nähe und Paarbeziehung zu gelangen, was freilich nur andeutungsweise gelingt. Damit reiht sich diese Choreographie in das Gesamtbild des Abends ein, in dem es geglückte Paarbeziehungen nicht zu geben scheint. Afshars Choreographie bezieht einen Teil ihrer Faszination aus der Mischung von modernem Tanz und Reminiszenzen an Tanztraditionen seiner persischen Heimat, woher auch der Titel stammt. Freilich ist das Stück durch die zweite Musik ein wenig zu lang geraten und verliert so an Spannung.

In David Moores Choreographie Bridges scheint zwischen den drei Tänzern vollendete Harmonie zu herrschen. In absoluter Synchronizität vollführen sie kraftvolle Tanzbewegungen, aber damit ist die Gemeinsamkeit auch schon zu Ende. Zwischen den Tänzern gibt es keine Nähe, keine Berührung.

Die gelingt auch in Shaked Hellers Stück Agoloy nur ansatzweise. Das ist auch in sich logisch, denn er stellt mit unterschiedlichen Musiken zwei Welten gegeneinander. Zu „Solveigs Lied“ aus Edvard Grieg Peer Gynt entsteht auf der Bühne eine in rosafarbenen Tönen gehaltene romantisch angehauchte Sphäre, zu maschinell anmutenden Klängen dagegen eine Art Kunstwelt aus Tänzern mit roboterhaften Bewegungen, ein reizvoller Kontrast, doch fehlt es an substanzieller Spannung.

Adrian Oldenburger: The storm before the calm. Tänzer: Veronika Verterich, Clemens Fröhlich © Stuttgarter Ballett © Stuttgarter Ballett

Das aufregendste Stück hat Adrian Oldenburger kreiert: The Storm before the Calm. Auch bei ihm bewegt sich alles in zwei sehr unterschiedlichen Welten, hier ist es eher der Kontrast zwischen der Lebensrealität und der Unterwelt, bezeichnenderweise zitiert er in seiner Musikauswahl Christoph Willibald Gluck, doch bei ihm ist nicht Eurydike im Schattenreich, vielmehr trauert sie hier als Lebende, faszinierend im Ausdruck Veronika Verterich, während der Tänzer, gewissermaßen Orpheus, hinter einer Leinwand als Schattenfigur agiert. Die Frau sucht den Schattentänzer in der Unterwelt auf, holt ihn in die Realität zurück, doch was dann folgt, ist eher ein strindbergscher Kampf der Geschlechter als eine enge Liebesbeziehung – ein kurzes Stück von ungeheurer Intensität und logischer Stringenz

Das Video on Demand ist bis 22.4.2021 abrufbar

https://www.stuttgarter-ballett.de/home/noverre-junge-choreographen/

 

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