Mit seinen Geschöpfen des Prometheus schrieb Ludwig van Beethoven zwar ein abendfüllendes Ballett, und seine siebte Sinfonie war für Richard Wagner die „Apotheose des Tanzes“, dennoch findet sich Beethovens Musik selten auf der Ballettbühne, sieht man einmal von Uwe Scholz ab, der immerhin die ganze siebte Sinfonie in ein Ballett verwandelte. Dennoch konnte das Stuttgarter Ballett jetzt einen reinen Beethovenabend realisieren mit zwei Klassikern von Altmeister Hans van Manen und einer Uraufführung von Mauro Bigonzetti: Triple Bill – Beethoven Ballets.
Martí Fernández Paixà, Timoor Afshar, Clemens Fröhlich, Ciro Ernesto Mansilla, Rocio Aleman, Veronika Verterich, Agnes Su, Alicia Garcia Torronteras © Stuttgarter Ballett
Es muss Hans van Manen wie ein Schock getroffen haben, als er 1968 bei Freunden Beethovens Große Fuge zum ersten Mal hörte. Noch viermal legte er an diesem Tag die Schallplatte mit der Aufnahme auf. Vielleicht kam ihm da auch schon die Idee zum Auftakt, dass vier Tänzer mit wenigen langen Schritten auf die Bühne kommen, innehalten, dann mit hektischen Bewegungen die Musik Beethovens aufgreifen. Bereits in diesen Anfangstakten wird deutlich, wie genau van Manen den musikalischen Strukturen folgt. Jeder Pause in der Musik entspricht ein Innehalten der Bewegungen auf der Bühne, jedes jähe Aufbäumen von Akkorden hat sein Pendant in immer hektischerem Ausschreiten. Wenn die musikalischen Motivfetzen in alle Richtungen zu zerfasern scheinen, greifen die Tänzer mit ausladenden Bewegungen in die Luft. Eine extreme Musik findet extreme Tanzbewegungen.
Nach dem Gruppenauftritt findet jeder von ihnen zu solistischen Darbietungen, es entsteht fast so etwas wie ein Schautanzen. Derweil blicken die vier Tänzerinnen, die von Anfang an auf der Bühne in einer dichten Gruppe stehen, unbewegt vor sich hin. Im lyrischen Teil tanzen dann sie – elegant, weich in den Bewegungen, poetisch. Auch sie erhalten Solopassagen. Alles in diesem Ballett ist symmetrisch aufgebaut und doch zugleich in ständiger Variationsbewegung. Das ist abstrakter Tanz zu abstrakter Musik, und zugleich bilden sich Inhalte heraus – ein sich Messen der Geschlechter, ein Gegeneinander, das im Schlussteil – van Manen lässt der Fuge noch eine Cavatina aus dem Streichquartett Nr. 13 folgen – in eine geradezu überirdisch wirkende Harmonie mündet, in der sogar die Männer Spitze tanzen.
Ein ähnliches Miteinander von abstraktem Tanz und inhaltlicher Aussage findet sich in van Manens Adagio Hammerklavier, zu dem ihn die extrem langsame Interpretation der Hammerklaviersonate von Beethoven durch Christoph Eschenbach inspirierte, eine Studie über Bewegung und Reglosigkeit, aber auch über männliches Machogebaren und weibliche Überlegenheit. Bei diesem Choreographen ist kein Schritt, keine Bewegung überflüssig, und damit ist jede Bewegung hochgradig bedeutsam. Selbst wenn die Tänzer nur zu schreiten scheinen, und sie tun das oft bei van Manen, ist jeder Schritt mit Bedeutung aufgeladen, ist voller Spannung. Und noch eines zeigte dieses erste Stück: van Manen ist ein Meister der Variation. Die drei Tanzpaare des Stückes scheinen auf den ersten Blick oft dasselbe zu tanzen, und doch hat jedes Paar eine ganz eigene Ausdrucksstärke. Mit höchster Konzentration führen die Stuttgarter Tänzer diese beiden Gratwanderungen aus, zwei Verneigungen des großen Choreographen vor dem genialen Komponisten.
Auch Mauro Bigonzettis neues Stück Einssein ist eine Hommage an Beethoven. Er wählte sich drei langsame Klaviersonatensätze aus und stellt die Musik gewissermaßen ins Zentrum seiner Choreographie: Der Flügel steht mitten auf der Bühne, dient sogar als Tanzfläche. Zu Beginn lagern die Tänzer lagern zu Beginn um ihn wie Verehrer eines großen Vorbilds, Menschen freilich in großer Verzweiflung. Geht van Manen von der abstrakten Tanzbewegung hin zu inhaltlichen Aussagen, wählt Bigonzetti den umgekehrten Weg. Deprimiert fassen sich die Tänzer an die Köpfe, wenden sich voneinander ab und scheinen dann einen Ausweg aus dieser deprimierenden Lage in der Gemeinsamkeit zu finden, in Paarbeziehungen. Dabei gelingen Bigonzetti höchst unterschiedliche Charaktere. Mal sind die Tänzerinnen kapriziös elegant, mal innig dem Partner zugewandt, mal fast kindlich verspielt. Bigonzetti findet für diese Beziehungen faszinierende komplexe Bewegungen und Beziehungsgefüge der Körper. Allerdings gibt es auch Leerstellen in diesem Stück, nicht selten fahren die Tänzer mit den Armen durch die Luft, wedeln mit den Händen und gestikulieren nur. Da geht ein wenig das verloren, was van Manens Choreographien so zeitlos und kraftvoll wirken lässt, die logische Stringenz, was freilich nichts daran ändert, dass auch Bigonzetti mit seinem neuen Stück den großen Choreographen George Balanchine Lügen straft, der einmal gesagt hat, man könne Beethoven nicht choreographieren. Man kann es sehr wohl, und wie!
Der Videostream ist bis 5.4.2021 abrufbar
https://www.stuttgarter-ballett.de/home/livestream-beethoven-ballette/