Zweihundert Bilder schuf Edgar Degas zum Thema Tanz, bzw. vor allem zum Thema Tänzerin. Doch nur ein Fünftel davon zeigt die jungen Frauen bei der Aufführung auf der Bühne, weit mehr interessierte ihn die Garderobe, der Probenraum, und bei den Tänzerinnen die schleierhaften Tütüs, mehr Farbtraum als Wirklichkeit, weniger der eigentliche Tanz. Der steht im Zentrum einer Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier in Dätzingen: Tanz ist Verwandlung.
Am nächsten bei Degas dürfte Alfred Lehmann sein. Mit duftigen Pinselstrichen gestaltete er 1957 eine Pariser Revue, die sicher auf einem Erlebnis eines solchen Tanzereignisses basiert. Doch ist dieses Bild harmlos verglichen mit dem, was der große Stuttgarter Fotograf Hannes Kilian aus dem realen Tanz machte. Auf seinen Fotos hielt er nicht einfach Tänzer und ihre Kunst fest, er gestaltete Bilder vom Tanz. So gab er Tänzern Lampen in die Hand, mit denen sie auf dem Foto Bewegungen in Leuchtlinien verdeutlichten – der Tanz wurde zur Zeichnung. Umgekehrt machte er aus einer Fotoaufnahme von realen Tänzern ein Kunstbild, eine Art Scherenschnitt. Eleganter, schwereloser lässt sich realer Tanz kaum mehr festhalten – es sei denn, man ist Künstler und greift zum Pinsel wie rosalie es getan hat.
Ihr Tänzerinnenkörper ähnelt denen auf Kilians Foto fast bis ins Detail, und doch ist dieser Körper nicht von dieser Welt. Die Kunst ist eben nicht gebunden an Gesetze der Schwerkraft. Die wenigen Tuscheflecken scheinen in jede Richtung fliegen zu können und bilden doch einen nachvollziehbar erkennbaren menschlichen Körper. Das geht schon fast an die Grenze der abstrakten Malerei – eine Grenze, die Willi Baumeister überschritten hat. Er nannte ein Bild zwar Tänzerin, und auf den ersten Blick hat es sogar Ähnlichkeit mit der Eleganz von rosalies Tuschezeichnung. Aber beim zweiten Hinsehen meint man fast, tanzende Kontinente zu sehen, so als ob in den Weltmeeren Europa und Afrika umherdrifteten.
Es gibt nichts, was nicht an Tanz gemahnen könnte. Bei Gerlinde Beck sind es Gestalten aus Metall, die eher an Marionetten erinnern, und eine Zeichnung in der Ausstellung ist denn auch eine Hommage an Oskar Schlemmer, der mit dem Triadischen Ballett ähnliche Kunstfiguren geschaffen hat. Was die Künstlerin dem starren Material an Eleganz und innewohnender Bewegung abgewinnt, ist verblüffend. Man meint, die Figurinen fingen in der nächsten Sekunde an sich zu bewegen und in wirbelnden Drehungen atemberaubende Tanzfiguren auszuführen. Dabei deutet sie an, dass Tanz stets raumgreifend ist, weshalb sie mit der dreidimensionalen Skulptur die gemäße Kunstform gefunden hat. Aber auch in der Zeichnung gelingen ihr solche raumgreifenden Figuren und Bewegungsandeutungen mit energiegeladenen Strichbündeln.
Dieser Raumkunst sind die Skulpturen von Axel Anklam nicht fern. Er gestaltet mit seinen transparenten, aus Metallgittern geschaffenen Arbeiten weniger feste Skulpturen, vielmehr liefert er mit ihnen den Rahmen für ein Luftvolumen, das die eigentliche Plastik ist. Man sieht die Luft quasi Form annehmen.
Das ist abstrakt – und lässt einen doch ständig an menschliche Figuren in Bewegung denken. Genau dieses spannungsvolle Wechselspiel führt auch Roberto Cordone vor. Zum einen hat er in einer unscharfen Fotografie eine Tanzszene festgehalten. Was in dieser Unschärfe an Formen noch bleibt, ähnelt verblüffend seinen abstrakten Metallplastiken; sie wirken, als seien sie aus der Fotografie heraus entstanden: Realer Tanz wird in reine Abstraktion überführt.
Reine Abstraktion auch bei K.R.H. Sonderborg. Die Linien und Punkte scheinen einer Ballettformation nachempfunden – fünf Tänzer im Gleichklang der Bewegungen in einer Reihe. Das Vorbild in der Realität aber waren in diesem Fall nicht Tänzer, sondern die Oberleitungen von Straßenbahnen: Technik wird zum Tanz.
Selbst ein so stabiles, in sich ruhendes Motiv wie das Haus kann zum Tanzen gebracht werden. Werner Pokorny bringt es in schwingende Kreisbewegungen – so meint man zumindest, denn auch wenn die Ausstellung von der Bewegung des Tanzes handelt, findet sich kein einziges kinetisches Objekt. Die Bewegung findet allein in der Fantasie des Betrachters statt – ausgelöst durch die Formkraft des Künstlers. Karl Otto Götz reichen drei übereinander geschichtete geschwungene dicke Pinselstriche. Das ist eine Symphonie in drei Sätzen – auf einer Leinwandfläche.
Ob man freilich in den Bildern von Hann Trier Tango oder Bolero erkennen kann, müssen passionierte Tänzer entscheiden. Dass aber die aus wenigen Strichen und Farbflächen von Bruno Diemer hinreißend auf die Leinwand gezauberte junge Frau die geborene Tänzerin sein muss, glaubt man sofort. Besser, so denkt man, dürften es nicht einmal die Primaballerinen vom Stuttgarter Ballett schaffen – die allerdings tanzen real, nicht nur in der Fantasie des Betrachters.
„,Tanz ist Verwandlung‘ – Gerlinde Beck zum 90. Geburtstag. Tanz und Bewegung in der Kunst der Moderne“, Galerie Schlichtenmaier, Dätzingen, bis 28.11.2020