Warum lächelt Mona Lisa? Jahrhundertelang hat diese Frage die Menschen zu Spekulationen, Geschichten, Fantasien angeregt. Théophile Gautier fühlte sich vor ihr wie ein Schuljunge vor einer Herzogin, für Walter Pater war sie die Erfüllung eines tausendjährigen Begehrens des Mannes. Kunstexperten sind sich weitgehend einig, woher der Eindruck des Lächelns kommt: Es ist das Sfumato, mit dem da Vinci die Mundpartie eher vage angedeutet hat. Ist es so einfach? In einer Ausstellung in der Villa Merkel in Esslingen kann man derzeit darüber philosophieren, was an der Kunst angetan ist, solche Fantasien hervorzurufen, „stories in the mind“.
Natürlich kann in der Kunst unserer Tage ein Kunstwerk auch einfach eine Geschichte erzählen, zumal in der Videokunst. Christian Jankowski hat gleich mehrere Stories zur Verfügung gestellt, denn er hat sich auf einer Horrormesse von den Besuchern deren Rachefantasien gegen die Menschen erzählen lassen, von denen sie schlimmstes Unrecht erfahren haben, und weil Jankowski Videokünstler ist, hat er denn solche Fantasien auch inszeniert. Hier kann der Betrachter passiv bleiben und rezipieren, was ihm vorgesetzt wird – oder auch seine eigenen Rachefantasien befragen.
Was Jankowski in den Äußerungen des Messebesucher fand, nämlich Geschichten, findet Nathalie Czech jeden Tag – in Zeitungen, Briefen, Tagebüchern. Doch nicht das, was da erzählt wird, interessiert sie, sondern das, was sie in diesen Texten entdeckt: einzelne Wörter, die – welch Wunder – die Anfangszeile eines Gedichts ergeben. Sie markiert die Wörter und macht so die „Hidden Poems“ deutlich: Geschichten, die der Alltag schreibt, wenn auch in verschlüsselter Form.
Hier tauchen Geschichten unvermittelt auf, wo man sie nicht vermutet; bei Katrina Palmer verschwindet eine Geschichte, die zunächst offen vorliegt, unter der Hand. Auf eine Wand hat sie die Geschichte von einem Totengräber geschrieben, der Steine zerschlägt und darüber sinniert. In jeder folgenden Version auf den übrigen Wänden des Ausstellungsraums verschmelzen die Textzeilen immer dichter ineinander, bis sie kaum mehr lesbar sind und am Ende zu einem schmalen weißen Streifen zusammengeschmolzen sind, der an eine Gesteinsformation erinnert: Die Geschichte ist zu einer Gesteinsschicht mutiert.
So weit sind Geschichten immerhin jeweils vorhanden, doch es kann einem auch ergehen wie vor der Mona Lisa. Jonas Dahlberg zeigt lediglich das Schwarzweißfoto eines Zimmers, an dessen hinterer Wand sich eine Tür befindet.
Das graue Foto wirkt geheimnisvoll, man fragt sich, was dieses Zimmer zu bedeuten habe, wohin die Tür führen mag, wer in diesem Zimmer gewohnt hat oder wohnen wird, man fühlt sich an die rätselhaften Bilder früher Film eines Alfred Hitchcock oder auch eines Ingmar Bergman erinnert und argwöhnt, dass die Katastrophe gleich hereinbrechen wird. Doch es geschieht nichts – außer im Kopf des Betrachters, der dann neben dem Foto einen kleinen Hinweis bekommt, was für eine Geschichte sich hier abspielen könnte. Es sind die Szenen des 1. Aktes von Shakespeares Macbeth. Es könnten auch die Szenen von Schillers Räubern sein oder Goethes Faust, oder eben die Szenen aus einem Hitchcock- oder Bergman-Film im Geist des Betrachters, so er sich nicht ganz eigene Fantasien erlaubt. Das Foto ist eine Leerstelle, die die Fantasie anregt, das Foto eines Raums, der keine Geschichte hat – – – oder wie bei Sven Johne einmal eine Geschichte hatte, nun aber nicht mehr hat: Johne folgte einer Tournee eines Zirkus und fotografierte die Plätze, auf denen er aufgebaut war – aufgebaut gewesen war, aber bereits wieder abgebaut war, als Johne den Ort aufsuchte und fotografierte. Die Fotos zeigen Orte mit einer Geschichte, die nicht mehr ist. Das ist nun wirklich der Stoff, aus dem die Geschichten in unserem Gehirn sind. Je weniger Geschichte in einem Kunstwerk erzählt wird, so scheint es, um so nachdrücklicher sind die Geschichten in unserem Kopf. Die Kunst muss nur in der Lage sein, sie auszulösen.
„Stories in Your Mind“, Villa Merkel, Esslingen bis 28.5.2017