Wie kleine Zwillinge der großen Kunstwerke wirken sie, die Schildchen, die man in Ausstellungen neben den Arbeiten findet mit Angaben über Künstler, Titel und Technik des Werks und damit fast identisch mit diesem, aber eben nur fast, denn diese Schilder – „Bildlegenden“ in der Fachsprache – sind, wie der lateinische Wortursprung nahelegt, etwas zum Lesen, Kunstwerke aber sind etwas zum Schauen. Daher findet man in der Gratianusstiftung in Reutlingen solche Schilder nicht. Die Malerin Gabriele Straub und ihr Mann Hanns-Gerhard Rösch wollen die Werke ihrer Privatsammlung ganz aus sich heraus wirken lassen, als Abenteuer des Auges.
Gabriele Straub, Mandarin, 2015. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Unterschiedlicher könnten die vier Bilder, die den Besucher der Reutlinger Gratianusstiftung empfangen, kaum mehr sein. Eine kleine Collage aus in Stücke geschnittenen Druckgraphiken von Erwin Gross. Dagegen breite blaue Farbstreifen in Reih und Glied von José Heerkens, ein in der Mitte schmal zulaufendes rotes Farbband von Raimer Jochims und feine Farbvaleurs in Gelb von Gabriele Straub.
Und doch haben alle vier Arbeiten eines gemeinsam: Sie ziehen den Betrachter geradezu magisch an, wie unauflösbare Geheimnisse. Die Collagen von Erwin Gross wirken wie Vogelschwingen in Miniaturformat und enthüllen erst bei genauem Hinsehen ihre raffinierte Technik; es sind in Stücke geschnittene alte Druckgraphiken. Die Farbstreifen von José Heerkens erinnern an banale Farbmuster auf Malerkarten und sind doch lapidare und zugleich faszinierende Erkundungen in Sachen Blau. Das rote Bild von Raimer Jochims scheint sich eine ganz eigene Form gebildet zu haben, und die gelben Pinselstriche auf dem Bild von Gabriele Straub, die sich zu einer undurchdringlichen und doch zugleich transparent wirkenden Fläche fügen, mögen an ostasiatische Philosophie erinnern. Das haben sie vielleicht für die Künstlerin getan: Mandarin nannte sie das Bild, vielleicht auch erst, als es fertig war, wegen der an gelbe Mandarinjacken gemahnenden Farbe. Titel und Technik – bei diesem Bild Eitempera auf Leinwand – kann man einer Broschüre entnehmen, die man als Begleitung durch die Ausstellung zur Verfügung bekommt, aber braucht man solche Angaben überhaupt? Die Symphonie in Gelb, wie das Bild von Gabriele Straub auch heißen könnte, ist eine nicht enden wollende Variationsfolge dieser hellen Farbe – so wie die blauen Farbstreifen von José Heerkens eine systematische Erkundung der Möglichkeiten von Blau sei können. Und Raimer Jochims hat sich gar zur Aufgabe gemacht, Farbe nicht in ein vorgefertigtes Format zu zwängen, etwa ein Rechteck, sondern die Form aus der Farbe heraus zu entwickeln.
Und damit sind wir im Zentrum dieses Ausstellungsprojekts: Kunst erzielt Wirkung allein durch den optischen Eindruck, und der wiederum resultiert, wie ein Gang durch das Haus in der Reutlinger Gratianusstraße Nummer 11 zeigt, aus verschiedensten Elementen. Erwin Gross zum Beispiel gibt mit seinen Bildern dem Betrachter Rätsel auf. Die Collagen, die wie Vogelschwingen aussehen, sind auseinandergeschnittene kleine Druckgraphiken: Das ist die Transformation eines Ausgangsmaterials in etwas völlig Neues. Seinen Acrylbildern liegen nicht selten Naturvorbilder zugrunde. Blumenbild heißt denn auch eines seiner Werke, aber nur in Klammer, ansonsten begnügt er sich mit dem enigmatischen „o.T.“, also „Ohne Titel“. Und in der Tat weichen die Naturinspirationen auf seiner Malerei in den Hintergrund, Formen lösen sich auf, alles ist in Grautönen gehalten, aus denen sich nur sachte Farbvaleurs herausbilden, um gleich wieder im Grau verschwinden zu wollen. Das ist Malerei und Zurücknahme der Malerei in einem. Seine Bilder eröffnen damit zwei Welten, so wie auch die Arbeiten von Reinhard Klessinger. Der Bildhauer arbeitet viel mit Glas, also einem transparenten Material, dem er das Transparente freilich wieder nimmt, indem er es bemalt. So hat er zwei Glasscheiben schwarz eingefärbt und auf der oberen Scheibe das Schwarz wie mit einem informellen Pinselstrich entfernt. Das ermöglicht Einblicke und verweigert sie zugleich: dem Vorbild entrückt heißt die Arbeit bezeichnenderweise, und Klessinger arbeitet oft mit solchen Zwischenbereichen. So entsteht bei einer anderen Arbeit das eigentliche Bild erst durch Spiegelungen zwischen zwei zum Teil weiß bemalten Glasscheiben. Zwischenraum heißt das Bild, wie man auf dem Beiblatt lesen kann, aber diesen Hinweis braucht man nicht. Das Auge erkennt auch so, was gemeint ist, und fängt an, zwischen Welten hin- und herzuschweben.
Sandra Eades, Between the Images Revisited Nr. 5, 2008. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Ein solches „Zwischen“ findet sich auch auf den Arbeiten seiner Frau Sandra Eades. Sie kombiniert Fotografie und Malerei, freilich in extremen Ausschnitten. So finden sich in einer Arbeit vereint das Foto eines weißen Tellerstapels und grob verputzte Zimmerwände. Auch Sandra Eades‘ Arbeiten sind in Zwischenbereichen angesiedelt – Between the Images, wie eine Arbeit heißt.
Die Künstler, die hier vereint sind, durften sich ihre Werke aus der Sammlung von Gabriele Straub und Hanns-Gerhard Rösch selbst aussuchen und mit jeweils einem anderen Werk kombinieren, und das musste nicht der Kunst von heute entstammen, denn die Gratianusstiftung vereint Werke von heute mit kulturhistorischen Dokumenten aus allen Erdteilen und Epochen. Eades und Klessinger wählten sich einen Holzschnitt von Kitagawa Utamaro aus, der eine Frau im Spiegel zeigt. So ergeben sich Wesensverwandtschaften zwischen dem Ehepaar von heute und dem Japan des 18. Jahrhunderts. Auf diese Weise werden mit der Sammlung der Stiftung und dieser Ausstellung historische und kulturelle Grenzen überschritten.
Gerd Neisser, Heißes Land, 1978. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Und der Betrachter erlebt ein Wechselbad der Gefühle. Die farbigen Kompositionen von Gerd Neisser zum Beispiel wirken wie Gemälde, sind aber mit Farbstiften gezeichnet – ist das nun Graphik oder Malerei? Hat er für seine Betrachtung der Werke nur das Auge zur Verfügung, eröffnen sich dem Betrachter Vieldeutigkeit und Zwischenvaleurs, die der Kunst eigen sind, im Gegensatz zur Sprache der Bildlegenden, die zwar auch vieldeutig sein kann, oft aber Eindeutigkeit anstrebt.
Michael Kolod wählte sich als Ergänzung zu seinen Werken eine schlichte Schale aus der altägyptischen Kultur aus, aus Alabaster. Das klingt wertvoll, ist aber chemisch so gebräuchlichen Stoffen wie Kalk und Gips verwandt – und Kolods eigene Arbeiten passen dazu. Sie sind meist aus schlichtem Holz oder Pappe hergestellt. Spielerische Fantastik von heute begegnet hier formaler Strenge von einst.
Und wer vor den Arbeiten von Hildegard Ruoff meint, raffinierte abstrakte Farbmalerei vor sich zu haben, täuscht sich. Es sind Fotografien, dazu noch von Alltagsgegenständen, allerdings in extremer Nahsicht aufgenommen. Der Alltag wird verwandelt.
So wird die Welt in Kunst verwandelt und eröffnet ganz neue Sphären – aber eben allein für das Auge, das sich diesen Welten öffnet. Dazu mag man Bildlegenden neben den Werken vermissen, aber der Versuch, sich erst einmal nur mit dem Auge der Kunst auszusetzen, eröffnet manchmal ganz neue Welten – und Werktitel wie „o.T.“ – „Ohne Titel“ bekommen da eine ganz neue Dimension.
„Künstler der Sammlung zeigen Werke aus der Sammlung“, Gratianusstiftung Reutlingen. Katalog 96 Seiten, 20 Euro