„Sprecht leiser, haltet euch zurück, ihr seid belauscht mit Ohr und Blick“ warnt ein Gefangener in Beethovens Fidelio seine Mithäftlinge in einem kurzen Augenblick, in dem sie ans Tageslicht dürfen, ehe sie wieder zurück in die dunklen Zellen müssen. Dennoch steht am Ende eine große Befreiung, obwohl zunächst alles dagegen spricht. Eine Befreiung scheint dagegen in greifbarer Nähe in Luigi Dallapiccolas 1949 entstandener Oper Der Gefangene, und auch in der 2006 uraufgeführten „nächtlichen Szene“ Das Gehege von Wolfgang Rihm scheint es zunächst um Befreiung zu gehen, und doch ist am Ende Freiheit unerreichbar. Die Oper Stuttgart hat nun beide Kurzopern zu einem Abend verbunden.
An ein Entrinnen ist in Martin Zehetgrubers Bühnenbild nicht zu denken. Ein großer Käfig beherrscht die Bühne, die nach hinten durch eine hohe Mauer aus gewaltigen Steinquadern verschlossen ist. Und der Mensch, der in diesem Käfig eingeschlossen ist, hat denn auch allen Grund, an ein baldiges Ende glauben zu müssen angesichts der Folter, die ihm die spanische Inquisition zugefügt hat; das Stück spielt zur Zeit des Freiheitskampfes Flanderns gegen das Spanien Philipps II. Und doch blitzt fast so etwas wie ein Lächeln auf, wenn er das Wort zitiert, mit dem sein Kerkermeister sich in sein Vertrauen geschlichen hat: „Fratello“ – „Bruder“ hat er ihn genannt, nennt ihn jetzt wieder, und lässt das Wort folgen, an dem sich der Gefangene fortan aufrichtet: „Hoffe“. Hoffnung freilich ist nicht angebracht, dieser Kerkermeister, der zugleich auch der Großinquisitor ist, spielt mit der subtilsten Folter, nämlich der Folter der Psyche. Und dass er erfolgreich ist mit seinem Sadismus, macht Georg Nigl, der den Gefangenen verkörpert denn auch deutlich, indem er diese Worte als Zitat intoniert – nicht mit seiner baritonalen Stimme, sondern mit leichter Kopfstimme, fast wie ein Tenor, und so werden sich der Gefangene und der Kerkermeister stimmlich in diesen Momenten ähnlich. Das ist der vielleicht raffinierteste Zug in dieser Inszenierung von Andrea Breth. Sie zeigt den Gefangenen nicht als Opfer einer realen Folter – Dallapiccolas Bühnenanweisung sieht noch eine Folterbank vor, in Breths Inszenierung ist der Käfig allein Symbol des Gefangenseins und Leidens -, sondern in der letzten Phase eines solchen Leidens: Dieser Gefangene ist bereits nicht mehr er selbst. Er hat nicht nur seine Freiheit verloren, sondern auch seine Individualität, beschränkt sich über weite Strecken darauf, die Worte des Kerkermeisters zu zitieren, immer wieder zu repetieren, wie ein Mantra.
Breth teilt die Situation im Käfig immer wieder durch Blackouts in kurze Einzelszenen, und jedes Mal, wenn das Licht wieder angeht, haben die beiden Akteure ihre Position verändert. So wird dem Betrachter die Orientierung genommen, genau wie es Häftlingen in dunkler Einzelhaft auch passiert, und der Eindruck drängt sich auf, dieser Gefangene habe bereits jeglichen Boden unter den Füßen verloren.
Das gilt auch für die Mutter des Gefangenen, die zu Beginn auftritt, nicht als ganze Person, sondern nur mit ihrem grell angestrahlten Gesicht. Hier hat die Zwangsinhaftierung die Figuren entmenschlicht; der Tod am Ende auf dem Scheiterhaufen ist nur noch eine letzte Konsequenz.
Grandios ist die Personenführung. Einschmeichlerisch schmiegt sich der Kerkermeister mit seinen Einflüsterungen an sein Opfer an. Grandios macht John Graham-Hall das auch stimmlich deutlich: Leise, verführerisch singt er, aber zugleich auch bestimmt, und Georg Nigl lotet das ganze Spektrum seiner Gesangsstimme aus: Von ängstlichem Flüstern bis zum hysterisch-verzweifelten Schrei.
Am Ende steht die Kerkertür offen, doch der Gefangen ist noch stärker gefangen als im Käfig: Er wird von zwei Inquisitionsmönchen in ein Seil gefesselt über die Bühne gezerrt zum Scheiterhaufen, der durch ein grelles Licht am Ende angedeutet ist.
Auch in Wolfgang Rihms Gehege wirkt Nigl mit, ist hier aber nicht zu hören, nur zu sehen – mit einer Vogelschwinge am linken Arm verkörpert er den Adler, den eine junge Frau aus dem Zoo befreien will. Doch auch hier steht am Ende nicht die Freiheit, sondern der Tod. Rihm hat seine nächtliche Szene als Ergänzung zu Richard Strauss‘ Oper Salome komponiert, und in der Tat kann man sie als satyrhaftes Pendant zu Salomes Schlussgesang deuten, in dem sie dem Kopf des toten Jochanaan höhnisch und zugleich verlangend einen Kuss abringen will.
In Andrea Breths Inszenierung wird ein Psychodrama aus dieser Szene, die von erotischer Perversion geprägt ist. Immer stärker identifiziert sich die Frau mit dem Tier, das hier gleich in mehreren Verkleidungen angedeutet wird, sucht mit dem Adler die Vereinigung, die sie schließlich symbolisch auch erreicht, indem sie mehr Vogel wird als die Vogelwesen um sie herum, denn am Ende klammert sie sich mit zwei Adlerschwingen an den Armen am Gefängnisgitter empor, während die übrigen Vogelwesen nur eine Schwinge tragen. Hier sucht sie vergebens die Freiheit, die sie dem Adler hatte bringen wollen. Ángeles Blancas Gulín, die bei Dallapiccola die Mutter gesungen hatte, fasziniert hier mit einem ähnlich großen Ausdrucksspektrum wie Nigl bei Dallapiccola. Vom reinen zarten Liebesgesang bis hin zur Drohung im Fortissimo. Sie ist zärtliche Geliebte und rächende Megäre zugleich, sie sirrt, sie gurrt, wird immer wieder stimmlich zum Vogel, mit dem sie sich dann auch szenisch so identifiziert, dass sie sich in ihn verwandelt.
Fast wie ein Kontrapunkt wirkt die Musik: Dallapiccola zwängt seine Oper zwar passend zum Thema in das enge Korsett der Zwölftonmusik, befreit es aber von der Düsterkeit des grauen Gefängnisalltags durch eine sinnliche Entfaltung des ganz von der italienischen und französischen Musik geprägten Orchesterklangs, und auch Rihms Musik ist von klanglicher Raffinesse, die Franck Ollu mit dem Staatsorchester brillant realisiert.
Wenn Rihms Stück auch nicht die inhaltliche Stringenz von Dallapiccolas Oper hat, so ist sie doch für Dallapiccolas Komposition eine grandiose Ergänzung zum Thema: Die Freiheit, die ich meine – und doch nie erlange.