Kunst lässt sich ganz allgemein als Bild einer Welt neben der uns vertrauten definieren. Sie kann realistisch sein und kaum Unterschiede zu unserem Alltag aufweisen, oder abstrakt, sie kann durch konkrete Hinweise etwa in Titeln Deutungssichtungen nahelegen oder der subjektiven Interpretation alle Wege offen lassen. Die neue Ausstellung im Kunstverein Reutlingen vereint beide Positionen geradezu im Extrem.
Man könnte den Eindruck gewinnen, hier seien vornehme Gebäude aus der Luft fotografiert worden – riesige Villenanlagen, Wohnplätze der Reichen und Schönen, vor allem der ganz der Ästhetik hingegebenen. Melanie Siegel hat diese Welten penibel fotorealistisch auf Leinwand gemalt, sodass man meint, Fotografien vor sich zu haben. Menschen in diesen Welten spielen natürlich nicht Fußball, sie spielen Tennis, und man meint, auf einigen Bildern von Melanie Siegel in frühere Tenniszeiten versetzt zu werden, in denen Tennis noch ausschließlich von sportlich weiß gekleideten Menschen gespielt wurde.
Das alles wirkt extrem realitätsnah, und doch wird man den Eindruck nicht los, eine künstlich erschaffene Sphäre vor sich zu haben, die nicht von dieser Welt zu sein scheint. Da gibt es kleine Verrückungen in der Perspektive, mal scheinen die Schatten nicht ganz zu stimmen, doch das alles sind nur Nuancen, die freilich ein Gefühl des Unbehaglichen heraufbeschwören.
Zu diesem Eindruck trägt vor allem bei, dass in diesen eindeutig von Menschen konzipierten und geschaffenen Welten niemand wohnt. Auf diesen Bildern fehlen Bewohner, obwohl sie doch für Menschenleben geradezu geschaffen scheinen: Poollandschaften zum Beispiel, Gartenstühle oder eben Tennisplätze. Doch die Gartenstühle aus Kunststoff oder Drahtgeflecht wurden, da ist man sich als Betrachter der Bilder sicher, noch nie von einem Menschen benutzt, das Pflaster rund um die Sitzmöbel ist von keinem Fuß berührt worden. Alles wirkt, als habe eine Urgewalt alles menschliche Leben entfernt. Und doch künden diese Bilder allenthalben von eben diesen Menschen.
So finden sich Büsche, die perfekt geschnitten sind, aber nur bis zur halben Höhe, gerade so weit, wie der Arm des Menschen reichte, der sich an das Stutzen gemacht haben muss. Darüber wuchern sie in freiem Wildwuchs. So manche Zäune aus weißem Metallgitter scheint die Natur sich wieder zurückerobern zu wollen, sie dringt mit Ästen durch das Menschenwerk und hat in einem Fall sogar ein Haus ganz in Besitz genommen: Es ist vollständig überwachsen – doch siehe da, die Natur folgte dabei ganz der von Menschenhand vorgegebenen Form, und man stellt sich unversehens Fragen danach, was der Mensch in der Welt eigentlich zu suchen hat. Er hat sich Wohnmöglichkeiten geschaffen, doch er wohnt nicht darin. Es sind Bilder, die Fragen stellen nach der Existenz der Menschen, und als Antwort möglicherweise die ernüchternde Feststellung bereithalten, dass er auf dieser Welt trotz seiner Bemühung keinen Platz hat.
Ähnliche Fragen werfen auch die Arbeiten der Inderin Reena Kallat auf. An einer ganzen Wand hat sie aus bunten Elektrokabeln eine Weltkarte gestaltet, deren verschiedene Erdteile und Regionen durch die Kabel miteinander verbunden sind. Sie stellen die Migrationsströme auf dieser Welt dar, von Menschen, die entweder aus ihrer Heimat vertrieben wurden – aus Lautsprechern tönen gelegentlich Sirenen von Polizeiwagen – oder aus andere Gründen ihrer Heimat den Rücken kehrten. Ob sie an ihren Migrationszielen bessere Lebensbedingungen fanden, bleibt offen.
Um von Menschen gezogene Grenzen und deren Willkürlichkeit oder auch Sinnlosigkeit geht es in Kallats Arbeiten immer wieder. So hat sie in einer vierzehnteiligen Arbeit berühmte Grenzlinien der Geschichte dargestellt: die Maginotlinie zum Beispiel, die Frankreich im 2. Weltkrieg anlegen ließ, um Angriffe aus dem Feindesland zu verhindern – vergeblich, wie man weiß.
Gleichfalls mit Kabeln dargestellt sind auf den Kopf gestellte Bäume. „Siamesische Bäume“ nennt Kallat diese Serie; sie stellt Bäume dar, die durch biologische Fusion aus benachbarten, aber politisch höchst unterschiedlichen, auch befeindeten Territorien entstanden wie eine Eiche, die sich aus Bäumen aus Mexiko und den USA bildete: Natur ignoriert, was Menschen an Grenzen geschaffen haben.
Das alles ist mit den bunten Kabeln, Elektroplatinen und Lautsprechern optisch faszinierend zu abstrakten Graphiken verbunden, die doch immer wieder Assoziationen an reale Verhältnisse auslösen, Assoziationen, die das Anliegen der Künstlerin darstellen und die sie mit Titeln und umfangreichen Begleittexten im Betrachter weckt.
Doch hier genau liegt der radikale Unterschied zwischen den beiden Künstlerinnen, die beim Besucher dieser Ausstellung grundsätzliche Fragen auslösen. Was soll die Begegnung zwischen Kunst und Betrachter bewirken, was – allgemeiner formuliert – streben Kunstausstellungen an? Melanie Siegel lässt die Frage offen. Ihre Werke verweigern Titel oder beschränken sich auf allgemeine Angaben wie „Dachlandschaften“ und verzichten somit auch auf jede Andeutung einer von ihr mit ihren Bildern bezweckten Mitteilungsabsicht. Und doch regen ihre Bilder im Betrachter grundsätzliche Fragen an – zur Existenz des Menschen, zu seinem Verhältnis zur Umwelt und zur Natur.
Ganz anders Reena Kallat. Sie ging bei diesen Arbeiten offenbar stets von weltpolitischen und humanitären Konstellationen aus, die sie mit ihren Arbeiten ins Bewusstsein rücken will. Freilich: Wer die Baumarten nicht kennt, die zu siamesischen Zwillingen wurden, wer außer der Maginotlinie andere Linien wie die Green Line zwischen Israel und Palästina oder die Mason-Dixon-Line zwischen den Nord- und den Südstaaten der USA nicht kennt, wird von den Werken selbst nicht in diese Denkrichtung geleitet. Sie führen eher zu allgemeinen Fragen nach Energie und Verbindung, oder angesichts von Stacheldrähten um Trennung und Gewalt. Auch das sind wichtige Fragen, sie bleiben jedoch ohne den konkreten Assoziationsanlass der Künstlerin eher vage.
Beide Ansätze sind künstlerische Positionen. Manchmal aber sind ausgerechnet Kunstwerke, die Hinweise durch eine Titelangabe verweigern, für den Betrachter eher nachvollziehbar als solche mit konkreten Vorgaben.
„Back to the Roots. Reena Kallat & Melanie Siegel“, Kunstverein Reutlingen bis 17.3.2024