Wohl kaum ein Werk der Weltliteratur enthält so viele Fragezeichen wie Lewis Carrolls Alice im Wunderland. Da wird Alice gefragt, was sie denn im Reich der Herzogin zu suchen habe, und Alice fragt sich unablässig, wer sie eigentlich sei und warum sie mal zur Riesin anwachse, mal zur Liliputanerin schrumpfe. Ganze literaturwissenschaftliche Bibliotheken haben über Sinn und Unsinn der hier geschilderten Welt räsoniert, in der die Logik auf den Kopf gestellt wird und so märchenhafte Wesen wie der Schildkrötensupperich auftauchen. Kein Wunder, dass sich das Kino, vor allem der Trickfilm, das Medium der zauberhaften Metamorphose schlechthin, dieses Stoffs angenommen hat. Kein Geringerer als Tankred Dorst hat neben vielen anderen eine Version für das Sprechtheater erstellt, nur die Opernbühne musste warten, bis 2007 die Koreanerin Unsuk Chin eine Oper daraus machte, ihr folgte vor zwei Jahren Johannes Harneit, dessen Version nun Barbara Tacchini für die Junge Oper an der Oper Stuttgart inszeniert hat.
Victoria Kunze (Alice), Philipp Nicklaus (Weißes Kaninchen) Foto: Christoph Kalscheuer
Für die wundersame Verwandlung der kleinen Alice mal in eine Riesin, mal in eine Zwergin hat sie eine geradezu märchenhaft feine, weil mit einfachsten Mitteln realisierte Lösung gefunden: Mittels eines Lichtspots lässt sie Alices Schatten auf eine Rückwand werfen, der in Sekundenschnelle wachsen und schrumpfen kann. Es ist eines von zahlreichen zauberhaften Bildern dieser Inszenierung, die im Stuttgarter Kammertheater ohne die große Bühnentechnik des Großen Hauses auskommen und Mangel an technischer Raffinesse durch Phantasie ersetzen muss. So reicht ein kleiner Sonnenschirm mit weißen Punkten auf rotem Grund, um die vergrößernde oder verkleinernde Wirkung des bei Carroll eingesetzten Pilzes zu erklären. Beim Croquetspiel im Reich der märchenhaften Königin werden diese Schirme schlicht umgedreht und als Schläger eingesetzt (auch wenn die von Carroll hierfür vorgesehenen Flamingos natürlich sehr viel poetischer und zugleich märchenhaft-grausamer sind, doch auf der Bühne schwer zu realisieren wären). Dampfschwaden aus dem Untergrund reichen, um den riesigen Kochtopf des Kochs vorzugaukeln. Mithilfe eines durch Kartons verkleideten Gabelstaplers wird mühelos die Höhe eines Baumwipfels suggeriert.
Barbara Tacchini hat mit ihrer Bühnenbildnerin Vesna Hiltmann ein Fest für die Augen geschaffen, einen kunterbunten Bilderbogen.
Victoria Kunze (Alice), Taxiarchoula Kanati (Raupe), Projektchor und -orchester der Jungen Oper Foto: Christoph Kalscheuer
Freilich: Die zahlreichen Fragezeichen, die in Carrolls Erzählung zentrale Bedeutung haben, kehren sich in dieser Bühnenversion ins Negative um. Allzu oft lassen sie den Zuschauer im Vagen, nicht zuletzt da dem Musiktheater, wann immer im Stil der dramatischen Oper gesungen wird, jene Verständlichkeit fehlt, die gerade für einen derart vertrackten Text unabldingbar wäre. Lediglich in den Dialogen oder „Rezitativen“ hat man die Chance, dem Geschehen folgen zu können, wobei selbst das nicht einfach ist, und hieran krankt das Libretto von Harneits Oper. Harneit wollte ein buntes, abwechslungsreiches Geschehen auf die Bühne bringen, und muss dabei die einzelnen Episoden zwangsläufig auf ein Minimum an Handlung und Dialog reduzieren. So ist weniger eine märchenhafte Reise durch ein Land der Unmöglichkeiten entstanden als vielmehr ein Kaleidoskop skurriler Szenen und Figuren, und die Inszenierung macht es dem Zuschauer nicht immer leicht, dem roten Faden zu folgen. Zwar liefert der weiße Hase als ständiger Begleiter der Hauptfigur einen Hauch von Kontinuität, doch warum Alice Chinaglia, die im 3. Akt die Königin verkörpert, im 2. Akt als Taube dieselbe Krone auf dem Kopf und dasselbe grellrote Sweatshirt trägt, bleibt unerfindlich. Ob jeder der kleinen Besucher („Oper für Erwachsene und Kinder ab 10 Jahren“) erkennt, dass die in einen bunt gemusterten grauen Overallanzug gekleidete Männergestalt im Rollstuhl erst ein Baby und dann ein Schwein sein soll, ist fraglich.
Musikalisch ist Harneit eine Komposition gelungen, die kindgerecht vom Volkslied bis hin zum neutönerischen Geräusch die unterschiedlichsten Stilmittel sicher verwendet hat – und die von dem kleinen in die Szene integrierten Instrumentenensemble unter Stefan Schreiber engagiert umgesetzt wurde. Dem Kinderchor (aus lauter Laien für die Junge Oper eigens zusammengestellt) merkt man die Begeisterung an dem Unterfangen in jeder Note an.
Das Stück aber hätte eine dramaturgische Straffung nötig gehabt – und die Inszenierung hätte darauf verzichten sollen, der Textvorlage in der Anzahl der Fragezeichen nacheifern zu wollen.