Die Fotografie ist ein Medium des Augenblicks, zumal der Schnappschuss hält im Bruchteil einer Sekunde eine Situation fest, kann somit als Inbegriff des Gegenwärtigen gedeutet werden. Wenn nun das Kunstmuseum Reutlingen Fotografie des Gegenwärtigen präsentiert, suggeriert sie freilich, dass dies eher die Ausnahme wäre – und hat nicht ganz unrecht damit: Auch wenn das Foto einen kurzen Situationszustand festhält, präsentiert es uns damit stets Vergangenes, denn dieser Moment der Aufnahme ist Geschichte. Wie also kann Fotografie dennoch den Ausdruck des Jetzt beinhalten?
Sie kann es beispielsweise mit dem Phänomen Geschwindigkeit. Auf einem Foto hat Barbara Probst den Sekundenbruchteil festgehalten, in dem ein Junge einen kleinen Ball in die Luft wirft. Der Ball ist unscharf – beliebtes Mittel zur Darstellung von Geschwindigkeit in einer Momentaufnahme. Doch das allein wäre nicht mehr als ein Schnappschuss, und so liefert Barbara Probst in einer Fotoserie auch noch, was im selben Augenblick in diesem Zimmer geschah: Die Mutter schaut offenbar dem Jungen bei seinem Spiel von einem anderen Zimmer aus zu, mit der Hand stützt sie sich dabei an eine Wand. Die Fotoserie liefert alle Zutaten zu einer Szene, die doch nur aus Einzelbildern besteht; alle Bilder wurden per Fernauslöser im selben Augenblick aufgenommen. Das ist eine Art filmisches Geschehen in Einzelbildern, und jedes der Bilder, also jede Momentaufnahme, hat ihre eigene Präsenz, also Gegenwärtigkeit. Und je größer das Detail in einer Aufnahme, umso präsentischer wirkt es. Damit befasst sich diese Arbeit mit Phänomenen wie der Gleichzeitigkeit von unterschiedlichen Weltausschnitten in ein und demselben Zimmer, sie stellt im Nebeneinander dar, was unsere Alltagswahrnehmung allenfalls im Nacheinander aufnehmen kann. Sie zeigt die eigentliche Gegenwärtigkeit des Moments.
Diese Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Details und Perspektiven führt Wolfgang Zurborn durch eine raffinierte Kombination von Bildvordergrund und Hintergrund, durch Totalsicht und Detailansicht in einem einzigen Foto zusammen. Seine Fotos wirken wie Collagen, sind aber reale Abbilder einer sorgsam ausgesuchten Szenerie. Das Auge gerät in Verwirrung, sucht die Zusammenhänge der Situationen und scheitert nicht selten – ein Kommentar zur scheinbaren Unvereinbarkeit von Weltausschnitten, die dennoch in der Realität zusammengehören.
In diesen Bildern bzw. Bildserien wird die Bewegung des Alltags dargestellt und doch zugleich eingefroren. Gegenwärtig aber kann auch Leblosigkeit sein, weil sie einen Hauch von Zeitlosigkeit in sich trägt.
Julian Faulhaber verzichtet auf seinen Fotos auf jegliches Personal. Seine Fotos von realen Räumen sind menschenleer, mehr noch, ihnen fehlt jede Gebrauchsspur, also jede Spur von Menschen, sie sind aseptisch rein und neu, unbewohnt. Gerade das, auf Hochglanzfotos präsentiert, verleiht den dargestellten Räumen – sei es ein neues Restaurant vor der Einweihung, ein düsterer Hintereingang oder eine Theke – eine geradezu überwältigende Gegenwärtigkeit. Es ist das Ding an sich, das sich dem Betrachter unentrinnbar aufdrängt.
Auf solche Räumlichkeit verzichtet wiederum Mareike Foecking. Man meint, mit ihren verschwommenen großformatigen Bildern in eine Traumwelt versetzt zu sein. Es ist eine Welt voller Menschen, denen aber jegliche Körperhaftigkeit abhanden gekommen ist; wir sehen sie nur als Spiegelungen in Schaufenstern, doch gerade durch dieses Motiv – die Alltagswelt der Großstadt – erhalten die Schemen von Menschen Präsenz, allerdings eine gespenstische. Es kommen Gedanken an die Unwirtlichkeit unserer Großstädte auf, daran, dass in der Masse jeder Einzelne an Individualität verliert, zur beiläufigen Schemenhaftigkeit verkommt.
Großstadt auch bei Viktoria Binschtok. Sie nahm sich schwarzweiße kleine Fotos von Googleworld – ein Schaufenster, einen Passanten auf dem Zebrastreifen, eine verkommene Straßenecke. Es sind Aufnahmen der Realität, sie geben also eine gegenwärtige Situation wieder, sind aber für sich genommen völlig unspektakulär, von Präsenz kann nicht die Rede sein, zumal sie schwarzweiß sind. Dieselben Orte hat die Fotografin dann aufgesucht und mit ihrer Kamera Details der Szenerie aufgenommen – die Schuhe im Schaufenster, einen Teil der Hausfassade hinter dem Passanten, die Müllsäcke in der Straßenecke, und siehe da, gerade durch die Ausschnitthaftigkeit der Szene werden die Fotos mit Präsenz aufgeladen, sodass man meint, unmittelbar vor Ort zu sein. Der Ausschnitt ist aussagekräftiger als die Totale, die unsere tägliche Wahrnehmung bestimmt.
So führt die Ausstellung den Betrachter dazu, seine alltägliche Wahrnehmung zu hinterfragen, sein Bild von der Welt, das sich aus gegenwärtigen Szenendetails aufbaut. Ausgangspunkt für diese grandiose Präsentation waren für den Kurator Holger Kube Ventura Bilder der besonderen Art. Er ist am Kunstmuseum Reutlingen zuständig für die Sammlung konkreter Kunst und entdeckte dort runde Spiegelplatten von Nikolaus Koliusis. Koliusis begann als Fotograf, bekam aber seine Zweifel ob der Bilder von der Welt, die er da machte, und begnügte sich danach damit, Bilder wie von selbst entstehen zu lassen.
Die auf den Boden des Ausstellungsraums ausgelegten Spiegel reflektieren je nach Standort des Besuchers Teile der Wand, der Decke, der ausgestellten Kunstwerke und des Besuchers selbst. Es ist das vom Ausstellungsthema her wohl treffendste Kunstwerk, denn die Bilder, denen der Betrachter hier begegnet, entstehen erst in dem Augenblick, in dem er sie wahrnimmt. Das ist Gegenwärtigkeit pur.
„An Ort und Stelle. Fotografie des Gegenwärtigen“, Kunstmuseum Reutlingen / konkret bis 16.8.2020. Katalog 127 Seiten, 15 Euro