Wörtlich genommen heißt fotografieren Zeichnen mit Licht. Das klingt nach bildender Kunst. Doch ursprünglich diente die Fotografie dem Ziel, die Realität möglichst exakt abzubilden, exakter und auch „neutraler“, als dies dem Maler vergönnt war, der seit der Erfindung dieses Mediums denn auch von der Aufgabe, die Realität wiederzugeben, befreit war. Dem trägt eine Bemerkung im Leporello zu einer Ausstellung in der Stuttgarter Galerie Schlichtenmaier Rechnung: es sei nicht möglich zu fotografieren, was nicht vor die Linse zu holen ist, heißt es da, um gleich zu korrigieren, das Ergebnis sei dennoch etwas anderes als das Dargestellte. Und der Ausstellungstitel verstärkt diese Korrektur noch: Die Illusion der Realität.
Dem Pol der traditionellen Funktion der Fotografie am nächsten scheint Hannes Kilian. Nach dem Krieg hielt er das zerstörte Stuttgart fest und machte sich vor allem einen Namen, als er das Stuttgarter Ballett auf dem Weg zum Weltruhm dokumentierte. Doch was er auf Film bannte, war mehr als reine Dokumentation. So fotografierte er im Guggenheim Museum in New York von oben steil nach unten – und verzauberte den Raum in ein Stück abstrakte Kunst. Die Spuren von Autoreifen auf den schneebedeckten Straßen im Winter wurden durch sein Auge zur feinen Grafik. Er stand dem Spruch des legendären Robert Bresson vielleicht am nächsten, der seinen Berufsstand aufforderte, das sichtbar zu machen, was ohne ihn wohl nicht wahrgenommen worden wäre.
Ähnliches lässt sich auch von Anton Stankowskis Fotos sagen, doch die Aufnahmen des gelernten Grafikdesigners machen nahezu durchweg aus der Realität Schwarzweißzeichnungen, ob es nun der Blick von unten in Strommasten ist oder ein kahler Baum und eine gebogene Schneise im Schnee im winterlichen Zürich. Hier wird die Realität durch das sehende Auge des Fotografen zur Kunst. Das gilt auch für Sára Sebestyén, die in Gebäudefassaden und Räumen mit der Kameralinse geometrische Abstraktion entdeckt und so die Realitätsvorlage verwendet, um sie zu transzendieren.
Verzauberung und Verwandlung finden sich allenthalben. Wenn Sinje Dillenkofer das Innere eines mit Samt ausgeschlagenen Kästchens in Nahaufnahme fotografiert, mutiert die reale Vorlage zu geheimnisvollen samtenen Farbschluchten. Aus dem Gebrauchsobjekt wird ein Raum zum Fantasieren, und doch ist es „nur“ die Wiedergabe eines Alltagsgegenstands.
Den umgekehrten Weg beschreiten die Fotokünstler, die mit ihrem Medium zwar die Nähe zur bildenden Kunst anstreben, sich dabei aber durchaus von der realen Vorlage entfernen.
Vera Mercer, Crab, 2009 © Vera Mercer /VG Bild-Kunst, Bonn
Vera Mercer gestaltet mit Früchten, Blumen und Tischobjekten wie Vasen wahre Bühnenbilder, nimmt sie mehrfach aus unterschiedlicher Distanz und Perspektive auf und collagiert sie dann in einem weiteren Foto neu. So meint man, ein Früchtestillleben abfotografiert vor sich zu haben, und ist doch mit einer fast surrealen Raumwelt konfrontiert, die die reale Welt lediglich in Versatzstücken zum Ausgangspunkt hatte und zu einer neuen Welt zusammenfügt. Auch Hirojuki Masuyama baut seine Bilder aus mehreren, oft sogar hunderten Fotos zusammen. Er überlagert sie im Computer, etwa Szenen aus dem heutigen Rom, und erhält so eine Paraphrase eines antiken Historiengemäldes von William Turner. Mit der Kamera entsteht so eine Art impressionistisches Gemälde, die Fotografie kippt um in reine Kunst.
Den Eindruck von Alter strebt auch Elger Esser an, nur wählt er den Eindruck alter Fotografien, die doch mit dem modernen Fotomittel von heute kreiert werden. So scheinen wir im 21. Jahrhundert mit diesen Fotos in die Welt eines Marcel Proust zu reisen, der ja auch auf der Suche nach der verlorenen Zeit war.
Zeit sichtbar zu machen, ist das Ziel von Martin Klimas, allerdings nicht eine historische Zeit, sondern eine Zeiterfahrung, die wir im Alltag nicht machen können. Er hält Tausendstelbruchteile einer Sekunde fest, indem er eine Blumenvase mit einer Revolverkugel zerschießt. Der Augenblick des Aufschlags, der Zerstörung des Glases ist extrem scharf dokumentiert, und wir sehen zwei Phasen einer Zerstörung: die Vernichtung (der Glasvase) und die scheinbar unzerstörbare Realität der Blume, die noch weiter existiert, als wäre nichts geschehen. Surrealität auch hier mithilfe ganz alltäglicher Realitäten. Hier ahmt die Fotografie nicht die bildende Kunst nach, hier wird sie zur ganz eigenen Kunstform. Wie auch auf Fotos von Hannes Kilian. Er dokumentierte nicht nur die Tänzer des Stuttgarter Balletts, er gab ihnen auch gelegentlich Taschenlampen in die Hand und hielt auf dem Fotofilm die Lichtspuren fest, die sie damit bei ihren Bewegungen machen. Das ist nun Fotografie im wahrsten Sinne des Wortes: Zeichnung mit Licht.
„‚Die Illusion der Realität’ . Fotografische Positionen“, Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart, bis 5.12.2020