Er lässt sich nicht gerne festlegen. Schon vom Spektrum der eingesetzten Medien her ist Ralf Ziervogel ständig auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten. So hat er Videofilme produziert, auf denen er sich alltäglichen Aktivitäten wie dem Zähneputzen widmet, so lange, wie der Zahnarzt es empfiehlt. Er hat Installationen gestaltet, in Berlin plant er einen riesigen Kubus für das Tempelhofer Feld. Bekannt wurde er mit filigranen Zeichnungen, die auf den ersten Blicke wie reine Ornamente wirken, sich bei näherem Hinsehen aber als Zeichnungen von kleinen Figuren bei zum Teil grausamen Aktionen entpuppen. Seit einigen Jahren greift er nicht zum Stift, wenn er zeichnen will, er zeichnet auch keine Körper, er zeichnet mit seinem Körper.
Lauter kleine ovale schwarze oder graue Punkte bedecken die kleinen Papiere. Sie scheinen geometrisch angeordnet in waagerechten und senkrechten Reihen, bilden gelegentlich halbrunde Bögen – abstrakte Muster, doch in Wirklichkeit sind es Wiedergaben der Wirklichkeit, unserer modernen Medienwirklichkeit. Ziervogel hat die Bewegungen auf Papier nachempfunden, die unsere Finger auf einem Touchscreen vollführen, sei es auf dem Smartphone, sei es auf dem Bildschirm von Computerspielen. Es sind gewissermaßen Skriptogramme unserer Alltagswelt, Aufzeichnungen dessen, was der Mensch mit der modernen Technik tut. Darin kann man vielerlei sehen: indirekte Kritik an einer oft ins Manische geratenden Abhängigkeit von modernen Geräten, Porträt des Alltags und zugleich abstrakte ornamentale Kunst. Auch in diesen Arbeiten changiert Ziervogel zwischen mehreren Bedeutungssphären, so wie er es ja schon mit seinen kleinteiligen Zeichnungen getan hatte, auf denen winzige Figürchen Gewalt ausüben und sich zugleich harmlos ornamental als Musterketten über die Papiere ausbreiten.
So abstrakt und zugleich ganz dicht an der Lebenswirklichkeit wie mit seinen aktuellen Arbeiten dürfte Ziervogel allerdings noch nicht gewesen sein. Auf größeren Zeichnungen begnügt er sich nicht mit der Fingerkuppe, da bringt er im Extremfall den ganzen Körper zum Einsatz oder spielt mit größeren Körperteilen.So färbt er gern den Unterarm samt Hand mit Gouachefarbe schwarz, legt den Arm dann auf ein großes saugfähiges dickes Papier und wischt oder zittert rhythmisch kreisförmig darüber, hinterlässt Spuren, die vage noch erkennen lassen, welche Körperteile da im Einsatz waren, deren körpernaher Ein- bzw. Abdruck aber meist derart verfremdet wirkt, dass man nur noch abstrakte Bildelemente ausmachen kann – die aber immer wieder an Körperhaftes erinnern – an Vogelschwingen beispielsweise, als hätte ein Greifvogel im Landeanflug seine Gefiederspuren an einer Felswand hinterlassen.
Körperlichkeit und Ungegenständlichkeit gehen eine Verbindung ein, zugleich vereint Ziervogel auf solchen Zeichnungen Bewegung und Statik. Die Bilder strahlen eine immense Energie aus und sind doch zugleich statisch geronnene Bewegung. Diese Bildelemente, die sehr schnell zu Papier gebracht werden, führt er dann mit Linien weiter, dünnen, filigranen Linien im Gegensatz zu den vehement aufs Papier gebrachten Körperspuren, Linien, die sich bei näherem Hinsehen als Texte entpuppen, die oft aus der Wiederholung eines Wortes bestehen: „Now“ beispielsweise findet sich häufig, das Hier und Jetzt. So gesellt sich zur „Körpersprache“ auch noch die Kalligraphie hinzu und ergibt Zeichnungen, wie man sie noch nicht gesehen hat.
In der Kunsthalle Göppingen hat er einige dieser Blätter auf dem Boden ausgebreitet; so kann der Besucher nachempfinden, wie die Arbeiten entstanden sind. Einige hat er an der Wand anbringen lassen, damit man die in winzigen Buchstaben zu Papier gebrachten Wörter entziffern kann. Vor allem aber ermöglicht die Ausstellung dem Besucher, die Zeichnungen aus großer Distanz auf einen Blick zu erfassen und dann aus allernächster Nähe in atomare Bildbestandteile aufgelöst mit den Augen abzutasten, denn auch das gehört zu diesen Zeichnungen: das Miteinander von Abstand und Nähe, ganz wie im realen Leben.
„RAM_Ralf Ziervogel“, Kunsthalle Göppingen bis 14.5.2017