Es gibt Künstler, die der Kenner geradezu spontan mit einer bestimmten Farbe in Verbindung bringt. Bei Yves Klein ist es das Blau, bei Vincent van Gogh das leuchtende Chromgelb, bei Rupprecht Geiger ist es das Rot, genauer: Pink – auch für einen Maler des 20. Jahrhunderts eine ungewöhnliche Farbe, zumal Geiger Jahrgang 1908 war und seine Farbe lange vor der Erfindung der Neonfarben fand, wie man sie von Textmarkern kennt, die ja auch nicht selten Striche in Pink von sich geben. Wenn jetzt das Schauwerk in Sindelfingen eine Ausstellung unter den Titel Pinc kommt! stellt, dann kann es sich nur um Rupprecht Geiger handeln und dann ist garantiert, dass der Ausstellungsbesucher mit intensiven Seherlebnissen konfrontiert wird.
Man kann in einem solchen Bild monochrome Malerei sehen. Es gibt nur eine Farbe, in diesem Fall eben Rosa, aber schon die schiere Größe des Bildes zeigt, dass Geigers Gemälde aus dem Jahr 1995 mehr ist. Der stark ein Meter hohe und über sechs Meter breite Streifen ist kein Bild im herkömmlichen Sinn, es ist ein Farbband, es verwandelt die Wand, an der es hängt, in mehr als nur einen Bildträger: Die Wand wird zum Bild, und das Bild ist mehr als ein Gemälde. Durch die Tagesleuchtpigmente, die Geiger in den 50er Jahren entdeckte, fängt die Flache an zu leuchten. Geiger befragt mit seinen Bildern das Wesen von Farbe, indem er die Farbe an sich zum Motiv seiner Bilder macht. Farbe aber ist nicht ein auf Leinwand aufgetragener Stoff, wie man geneigt ist zu glauben – Farbe existiert nur durch das Licht. Das nehmen wir nicht wahr, wenn wir vor üblichen Gemälden etwa in Ölfarbe stehen; da meinen wir, das Bild sei rot oder blau, so wie wir sagen, die Zitrone sei gelb. Geigers Farbbilder aber machen unvermittelt den Lichtcharakter von Farbe deutlich. Insofern zwingen seine Gemälde den Betrachter zum Umdenken.
Zum Umdenken auch hinsichtlich des Wesens eines Bildes. Geiger stellt nichts auf seinen Bildern dar, auch nicht Farben wie eben das Pink, Geiger präsentiert dem Auge Farbe pur. Daher verzichtet er auch konsequenterweise auf jede Rahmung, die Farben wirken grenzenlos. Wenn es Grenzen in seiner Malerei gibt, dann schafft er sie innerhalb seiner Bilder. So bereits in den frühen 50er Jahren.
Da setzte er abstrakte Bildelemente so gegeneinander, dass sie fast dreidimensional wirken. Auf einem Gemälde von 1953 scheint das gebogene rote Farbelement über der Bildfläche zu schweben, während der weiße Strich wie eine Öffnung in einen Raum hinter das Bild wirkt. Bereits in diesen frühen Gemälden entwickelt Geiger eine Bildsprache, die zwar eindeutig der Moderne zuzuweisen ist, die aber kein Vorbild in der Kunst dieser Jahre zu haben scheint. Geigers abstrakte Bildsprache ist einzigartig – vielleicht, weil der gelernte Architekt in der Malerei Autodidakt war, ein Autodidakt, der schon bei seinen ganz frühen Malversuchen eigene Wege ging. Als er im 2. Weltkrieg an der Ostfront unweit von Moskau stationiert war, hielt er die Landschaft seines Lagers im Aquarell fest. Da erkennen wir zwar durchaus noch Landschaftselemente, aber der Himmel besteht nicht aus Wolken, sondern aus unterschiedlichen gefärbten weißlich-bläulichen Streifen. Das ist bereits eine Vorstufe dessen, was er dann nach dem Krieg entwickelte: Farbe als Motiv und Bildgeschehen.
Den Weg zum Pink wies ihm ein Carepaket aus den USA, das neben den dringend benötigten Lebensmitteln auch einen Lippenstift in Pink enthielt. Geiger zog damit einen leicht gebogenen Strich – und hatte seinen künftigen künstlerischen Lebensinhalt gefunden. Seither befasste er sich ausschließlich mit Fragen zum Phänomen Farbe und Bild. Das Bild entgrenzte er, indem er alles verbannte, was wie ein Blick aus dem Fenster wirken könnte, wie das Bild seit der Renaissance definiert wurde. Er ließ vom Rechteck ab und schuf Bilder in unregelmäßigen Formen, trapezoid, rhombenförmig. Damit wird der Blick einmal mehr konzentriert auf das Farbgeschehen auf den Bildern gelenkt.
Er entdeckte, dass Farbe je nach Form des Bildträgers andere Wirkungen erzeugt. Ein großes rundes gelbes Farbfeld entwickelt im Auge ganz andere Schwingungen als ein rechteckiges in derselben Farbe. Farbe und Form sind interdependent. Zugleich überwand er aber auch den Gedanken an die Bildformen, indem er durch die Leuchtkraft seiner Bilder reine Wahrnehmungsräume schuf. Blickt man intensiv auf eines seiner Bilder, dann dringt man unwillkürlich in die Farbe ein, hat für nichts anderes drumherum mehr ein Auge.
Der Betrachter verliert sich in der Farbe, zumal Geiger immer wieder seine Farbräume moduliert, das Auge also mit kaum wahrnehmbaren Veränderungen der Farbvaleurs konfrontiert ist. Von da war es nur noch ein Schritt zu echten von ihm gestalteten Räumen, in denen man in Farbe eintauchen kann. Hier verliert man sich in der Farbe, scheint zu schweben, so wie die Farbe losgelöst zu sein scheint von jeglichem Bildträger. Farbe verliert bei ihm alles physisch Materielle und wird rein geistig, zu einem Farbenrausch, einem Zustand, nicht einem Gegenstand.
Da diese Ausstellung Geigers Entwicklung von den Anfängen bis in seine letzten Schaffensjahre präsentiert, gelingt ihr eine Revision des landläufigen Geiger-Bildes, der eben nicht der Maler bestimmter Farben – neben Pink alle Rotschattierungen und Gelb – war, sondern ein Philosoph, der mithilfe seiner Gemälde das Wesen von Farbe untersucht und augenfällig macht, so dass man, wenn man die Ausstellung verlässt, möglicherweise weniger einzelne bestimmte Gemälde in Erinnerung behält als vielmehr das große Sinneserlebnis Farbe.
„Pinc kommt! Rupprecht Geiger“, Schauwerk Sindelfingen, bis 16.9.2018