Mit der industriellen Nutzung von Dampfmaschinen wurde Blech einer der populärsten Metallstoffe, konnten jetzt doch Metallblöcke hauchdünn ausgewalzt und damit in jede gewünschte Form gebracht werden. Davon profitierte nicht zuletzt die Spielzeugindustrie. Die großen Hits bis heute sind Modelleisenbahnen, aber auch Flugzeuge, Kinderküchen und Tiere, zumal wenn sie aufziehbar und somit beweglich waren. Inzwischen sind derlei Spielzeuge vor allem aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts rare Sammlerstücke, seit der Kunststoff das Blech abgelöst hat. Sammler fotografieren ihre Schätze, um sie zu dokumentieren. Die Berliner Künstler Sebastian Köpcke und Volker Weinhold gingen den umgekehrten Weg: Sie begannen Blechtiere zu sammeln, um sie fotografieren zu können. Es entstand ihre mechanische Tierwelt.
So kennen wir sie aus naturkundlichen Filmen von der Antarktis: Ein wenig unbeholfen stehen vier Pinguine auf ihren leicht gespreizten Füßen, schauen etwas verwundert und zugleich neugierig nach vorn und wirken, als wollten sie sich gerade im Gänsemarsch auf den Weg in eine fremde Zukunft machen. Ihre Körper spiegeln sich im leicht welligen Eis, auf dem sie watscheln – und doch könnten diese vier Gebilde nicht weiter von der Natur entfernt sein, denn sie sind aus Blech, und in den Rücken der vier putzigen Tierchen stecken die Schlüssel, mit denen man sie aufziehen und in Bewegung setzen kann. Auf großformatigen Fotografien haben Köpcke und Weinhold tierisches Blechspielzeug porträtiert. Die originalen Sammlerstücke kann man in Vitrinen bestaunen, und da wirken sie vergleichsweise harmlos. Zwar sind auch sie bunt bedruckt und ähneln durchaus ihren echten Vorbildern in der Natur, aber die Farbenpracht, die sie auf den Fotos entfalten, verdanken sie der raffinierten Ausleuchtung durch die beiden Künstler.
Auf den Fotos wirken sie deshalb so lebensecht, weil sie nicht einfach vor einem neutralen Hintergrund aufgenommen wurden. Köpcke und Weinhold haben für ihre Fotos Hintergrundszenarien entworfen. Der Affe befindet sich in einem grünen Dschungel und will sich gerade an einer Liane in die Höhe schwingen, giftgrüne Raupen haben auf einem Wirsingkopf ein ideales Futterreservoir gefunden. Und doch haben diese Gebilde mit Natur nichts zu tun. Die Libelle wirkt wie ein Spielzeughubschrauber, der sich seinen Weg durch die Lüfte bahnt, der Affe hat ein Käppi auf dem Kopf wie seine Artgenossen im Zirkus, und der Haifisch erinnert eher an einen Zeppelin mit aufgemalten Haifischzähnen.
Die Fotos geben eindeutig künstlich hergestelltes Tierspielzeug wieder, das sich paradoxerweise in einem natürlich wirkenden Habitat befindet. Und das ist erst eines von mehreren Paradoxa, die diese Präsentation über ein reines Kuriositätenkabinett erheben. Denn was wie ein natürliches Umfeld wirkt, ist in den meisten Fällen noch künstlicher als das immerhin der Natur nachgebildete Spielzeug. Zugegeben: der Wirsingkopf ist echt, und auch der Sand, in dem sich eine Schlange drohend aufrichtet; Disneys Dschungelbuch lässt grüßen. Doch die Urwaldlianen sind das Ergebnis raffiniert ausgeleuchteter, mehrfach hintereinander geschichteter Glasscheiben, desgleichen die Meereswogen, in denen sich die Fische tummeln. Steht man vor diesen Fotos, ist man hin- und hergerissen zwischen Naturähnlichkeit und Künstlichkeit und fragt sich, was wohl wie zustande gekommen sein mag …
und ertappt sich dabei, wie man kleine Geschichten zu den Szenarien erfindet, denn das sind diese Fotografien: nicht einfach Bilder, sondern Szenen aus dem Leben von – Spielzeugtieren. Da fühlt man mit der Eule mit, die neben einem Ziffernblatt etwas verwundert durch ihre großen Augen schaut und sich fragt, ob sie denn überhaupt schon aktiv sein darf, denn es ist ja erst zwölf Minuten vor zehn Uhr auf dem großen Ziffernblatt des Weckers, den dieses nachtaktive Tier vor dem Federbauch hält. Wie mag der Elefant an die Hagebutte gekommen sein, die er auf dem Rüssel balanciert, während er einen dünnen Baumzweig entlang klettert – und wie kam er wohl auf den Baum? Und bei der Wühlmaus fragt man sich zwangsläufig, wer hier wen zu fürchten hat: die Pastinaken mit ihren zarten Würzelchen das Nagetier, oder die Maus, die sich vor den spitzen unteren Enden der Gemüsewurzeln in ein Erdloch zurückgezogen hat.
So führen diese Bilder letztlich das vor, wozu Spielzeug für Kinder ja oft auch da ist: Sie regen die Einbildungskraft an, lassen die Fantasie Welten erfinden., deren Ausgangspunkt diese Fotos sind, und daher wirken die Bilder auch noch im Kopf nach, nachdem man die Ausstellung verlassen hat. Die Safari in die Welt des Kinderspielzeugs lässt auch Erwachsene wieder zu Geschichtenerzählern werden.
„Mechanische Tierwelt“, Zehntscheuer Balingen bis 10.6.2018