Eigentlich war er schon müde, wollte sich längst von der Bühne zurückziehen – Giuseppe Verdi, schon Mitte 70 -, hätte ihn nicht sein Komponistenkollege Arrigo Boito bedrängt, der war nicht nur Komponist, sondern auch ein vorzüglicher Librettist und hatte wenige Jahre zuvor den alten Meister schon mit einem Operntext zu Shakespeares Othello aus der Reserve gelockt, jetzt gelang ihm ein Meisterwerk, er überredete Verdi dazu, eine Komödie zu komponieren, seine erste! Stoff: Die Figur Falstaff, die bei Shakespeare, dem erklärten Dichterliebling von Verdi, in zwei Stücken auftritt: „Heinrich IV.“ und – als Hauptrolle – in den „Lustigen Weibern von Windsor“. Das Resultat ist singulär. Verdi ging völlig von seinen gewohnten Kompositionstechniken ab, die Oper verzichtet auf Arien, sie ist durchkomponiert, als wäre es ein Sprechstück mit Musik – nicht leicht zu musizieren, nicht leicht zu spielen. An der Oper Stuttgart hat Andrea Moses 2013 das Werk auf die Bühne gebracht.
Natürlich ist dieser Falstaff ein Dickwanst, aber er steht zu seiner Statur und weiß genau, dass er sie dem Genuss verdankt. Und natürlich ist Falstaff ein alter Schwerenöter, der sich hoffnungslos irrt, wenn er meint, bei Frauen immer noch Chancen zu haben – wenn er sie überhaupt jemals gehabt hat. Gerade die Frauen, bei denen er meint, leichtes Eroberungsspiel zu haben, drehen den Spieß um und treiben ihrerseits ihr Spiel mit ihm. Aber Falstaff ist kein Dummkopf, schließlich darf er in Arrigo Boitos Libretto gleich zu Beginn seinen Saufkumpanen einen Vortrag über das Wesen der Ehre halten. Zum Schluss, wenn alles drunter und drüber geht und er am Ende zu sein scheint, erhebt er den Zeigefinger und stimmt die Moral des Ganzen an: Die ganze Welt ist eine Posse. Albert Dohmen, weltweit vor allem als Wagner-Bariton gefeiert, gestaltet den Falstaff verhalten, fast philosophisch reflektierend, und hebt ihn damit weit über den üblichen Witzbold hinaus.
So hat Andrea Moses denn auch darauf verzichtet, ihn allzu lächerlich mit einem Bauch auszustatten und roten Trinkerbacken, wie er gern auf die Bühne gebracht wird. Zwar hat die Kostümbildnerin Anna Eiermann den Bariton Albert Dohmen mit ein paar Pölsterchen versehen, aber Falstaff in der Stuttgarter Inszenierung ist ein durchaus ernst zu nehmender Geselle, verglichen mit dem die übrigen Figuren lächerlich dastehen – seine Spießgesellen, mit denen er seine Gaunereien betreibt, um wenigstens gelegentlich zu Geld zu kommen, und auch der biedere Bürger Ford, der seine Tochter um des Geldes willen verkuppeln will und dem es nur vordergründig um die Treue seiner Frau geht; ihm kommt es vor allem darauf an, sie zu besitzen. Daher spielt denn auch Geld eine wichtige Rolle, als er versucht, hinter Falstaffs ehebrecherische Schliche zu kommen.
Gezim Myshketa, Albert Dohmen, © A.T.Schaefer
Die Damen von Windsor verhalten sich entsprechend, leben hin- und hergerissen zwischen Jogging und Shopping. Die Welt, in der der Stuttgarter Falstaff lebt, ist ein Pandämonium von abstrusen Charakteren, unter denen Falstaff einzig ernst zu nehmen ist, trotz seiner Schrullen. Allerdings verliert Falstaff dabei auch so manches an Witz, zumal Albert Dohmen nicht der geborene Komödiant ist, den diese Figur benötigt. Für Witz sorgt Regisseurin Andrea Moses, wenn sie ihn zum Rendezvous ausstattet wie Luchino Visconti seinen Aschenbach im Film „Tod in Venedig“ und auf der Bühne genau das quirlige Spektakel entfacht, das diese Oper benötigt, die schon wie mit einem witzigen Paukenschlag beginnt.
So etwas verlangt präzise Rhythmik bei den Sängern, an der es allerdings bei der Premiere gelegentlich haperte. Andrea Moses hat dabei die Partitur genauestens umgesetzt, es gelingt ihr, die kleinen Leitmotive, mit denen Verdi jede Figur musikalisch charakterisiert, in die Gesten zu übertragen. Und Sylvain Cambreling im Orchestergraben macht deutlich, dass hier jede Charakterisierung angelegt ist, hier jede szenische Wendung vorbereitet wird. Die Hauptrolle an diesem Abend spielt eindeutig das Orchester.