Douglas Lee und Louis Stiens sind dem Stuttgarter Ballettpublikum bestens bekannt. Beide sind beliebte Tänzer in der Compagnie und beide arbeiteten schon unter der Direktion von Reid Anderson als Choreographen für das Ballett. Jetzt hat der neue Direktor Tamas Detrich beide mit neuen Arbeiten beauftragt. Zum Trio ergänzt werden sie durch einen Star des Abends, der unter anderem das Ballett am Rhein zu internationalem Erfolg geführt hat und demnächst das Ballett der Wiener Staatsoper übernehmen wird. In Stuttgart ist Schläpfer ein Neuling, auch wenn er als junger Tänzer einmal kurz bei der Ballettdirektion angeklopft hatte.
Kann Schläpfer auch belanglos? Er kann, so zeigt seine neueste Arbeit für das Stuttgarter Ballett, aber auf höchstem Niveau. Es ist eine Lust zu sehen, wie elegant die Männer buchstäblich durch die Luft fliegen, wie Friedemann Vogel sich in sich versenkt oder wie Roman Novitzky einer Dame elegant den Fuß – natürlich auf der Spitze – in die Höhe hebt, als wolle er einen Handkuss wagen. Doch inhaltlich ist Schläpfer zu dieser Brillanz nicht gerade Tiefsinniges eingefallen. Taiyō to Tsuki lautet der japanische Titel seiner Arbeit, zu deutsch: Sonne und Mond, und über weite Strecken herrscht Sonnenschein, eitel Sonnenschein. Man fühlt sich an einen spätsommerlichen Nachmittag versetzt, möglicherweise im 19. Jahrhundert, denn alles gemahnt ein wenig an Bilder aus dem Biedermeier, auch wenn die Kleidung der Tänzer zeitlos ist. Die Dorfjugend trifft sich, man schäkert, man bandelt an, man verweigert sich zickig, obwohl man doch eigentlich ja sagen will. Das ist witzig, elegant, spritzig, aber viel mehr auch nicht, und es passt zur lebensbejahenden Musik von Schuberts 3. Sinfonie, deren rhythmische Vertracktheiten allerdings eher ausgespart bleiben.
Freilich: einen ganz unbeschwerten Sommernachmittag hat Schläpfer nicht auf die Bühne gezaubert. Zu Beginn steht ein Tänzer (Friedemann Vogel) in selbstquälerischer Einsamkeit auf der Bühne, den Kopf in die Arme gepresst wie von unbändigem Schmerz geplagt. Dieses Aussetzen der Lebensfreude, der Absturz in Depression findet sich immer wieder, und zwar zwischen den einzelnen Sinfoniesätzen. Hier kippt der Sommer um in Winterkälte, und das rettet die Choreographie im ersten Teil vor allzu glatter Gefälligkeit.
Aber der Titel enthält ja auch noch den Mond, die Nachtseite, und sie prägt den zweiten Teil des Stücks. Da sitzen oder stehen die Tänzer fast nur noch reglos auf der Bühne, mit hängenden Köpfen – ein Bild der absoluten Trostlosigkeit im Sinne des Wortes. Hier ist keine Hoffnung mehr, kaum ein Zeichen von Lebensbejahung. Martin Schläpfer hat zu den fünfzehn Minuten von Hosokawas Seascapes of Fukuyama eine tänzerische Endzeitvision geschaffen mit Bildern, die man so schnell nicht vergisst. Immer wieder sinken die Menschen einander in die Arme, entsetzt ob der Aussichtslosigkeit. Tänzerinnen schweben in steifer, lebloser Körperhaltung auf schnellen Spitzentrippelschritten rückwärts.
Doch der Viertelstunde tiefen Ernstes steht eine halbe Schubert entgegen, zuviel des Guten. Hätte Schläpfer sich bei Schubert auf den Kopfsatz beschränkt, hätte er eine perfekte Balance zwischen beiden Ausdruckswelten geschaffen, so überwiegt harmlose Fröhlichkeit.
Das Kontrastpaar Beisammensein und Einsamkeit prägt auch das neue Stück von Louis Stiens. Auch hier steht zunächst nur ein Tänzer auf der Bühne, und er scheint sich seiner Sache höchst unsicher zu sein, und mit seiner Sache ist sein Körper gemeint. Als müsse er die diesem Organismus möglichen Bewegungen erst noch einstudieren, betastet er vorsichtig seine Gliedmaßen, versucht sie mit den Händen in bestimmte Positionen zu bringen, als versuche er, sich das mögliche Bewegungsrepertoire des Körpers beizubringen, eine körperliche Meisterleistung von Shaked Heller.
Ganz anders die übrigen Tänzer, wenn sie in der Gruppe beisammen sind. Hier gibt die Gemeinschaft gemeinsames Verhalten vor, ausgedrückt durch gleiche Bewegungen aller. Die Gruppe gibt Halt, aber sie unterbindet auch jedes Hinterfragen des gemeinsamen Tuns, also das, was der Einzelne zu Beginn getan hat: Das, was man im Alltag automatisch tut, zu überprüfen, Alternativen zu suchen. Stiens hat eine sehr philosophische Fragestellung in Tanz überführt. Sobald die Gruppe sich zerstreut und ein Einzelner übrigbleibt, ist es mit der Sicherheit vorbei. Hier kommt die Gestalt ins Spiel, mit der das Stück begann. Messenger nennt Stiens sein Ballett. Er folgt damit dem Inhalt von Ondřej Adámeks Violinkonzert Follow Me. Darin geht es um die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der Menge, zwischen einem „Führer“, so der Komponist, und einer Menschenmenge, musikalisch gesprochen zwischen der Solovioline und dem Orchester.
Das ist spannend, allerdings besteht das Stück letztlich aus zu vielen Wiederholungen desselben Grundmusters, auch wenn diese Wiederholungen variiert werden. So wirkt sich das Konzept letztlich ein wenig lähmend aus.
Sinéad Brodd © Stuttgarter Ballett
Auch Naiad, die Choreographie, mit der der Abend beginnt, handelt von einem Gegensatz zwischen Einzelnem und Gruppe. Douglas Lee ist dafür in der Mythologie fündig geworden, bei den Najaden Er sieht in ihnen, beziehungsweise einer einzelnen, weniger ein Fruchtbarkeitssymbol, als vielmehr das Symbol der Meerestiefe. In schwarzglänzenden Reifrock bewegt sie sich langsam über die Bühne, wirkt wie eine überdimensionale Qualle und scheint unberührt von dem Treiben, das die Menschen um sie herum beginnen. Während diese Najade immer wieder aus einem Gedicht von Alfred Tennyson zitiert, in dem es um einen Kraken geht, kontrastieren hier zwei Welten: Die der Menschen, die sich in diesem Ambiente des Nassen, Bedrohlichen bewähren müssen und es oft in Gemeinsamkeit auch schaffen, und dem Schicksal, verkörpert durch die Najade, das sich um das Treiben der Menschen nicht schert. Faszinierend gelingt es Sinéad Brodd, diese emotionslose Souveränität gegenüber den anderen mit extrem ruhig fließenden Bewegungen deutlich zu machen. Am Ende obsiegt das Schicksal, die Menschen entschwinden hinten – im Meer oder im Nichts? Die enigmatische Figur bleibt ungerührt von deren Überlebensversuchen.
Das ist eine Choreographie aus einem Guss, in der alles stimmt. Die Musik, für die Lee sich entschied, ist zwar nicht so experimentell aufregend, verleiht aber dem Enigmatischen seiner schwarzen Figur im Meer hinreichend Atmosphäre, und was Lee auf der Bühne veranstaltet, ist von einer so mächtigen Bildhaftigkeit, dass allein das abgrundtiefe Schwarz als Symbol der Lebensbedrohung und des ewig Unwandelbaren in Erinnerung bleibt.