Als Karin Kneffel in den 90er Jahren mit Tierporträts an die Öffentlichkeit trat, Köpfen von Schweinen, Kühen und Hunden, da erregte sie Aufmerksamkeit, denn das Tier, zumal das Nutztier des Bauern, war aus der europäischen Malerei längst verschwunden. Es passte nicht zum Weltbild und Weltgefühl der Moderne. Das war auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts so. Als sich Ernst Ludwig Kirchner 1917 aus Gesundheitsgründen in die Schweizer Alpen zurückzog und auf seinen Bildern eben solche Tiere festhielt, beschritt er ähnliches Neuland, wie jetzt eine Ausstellung in Bietigheim und Biberach belegt.
Absteigende Kühe, 1920 © Georg Kolbe Museum, Berlin. Foto: Markus Hilbich
Ein Alpabtrieb in den Schweizer Bergen. Es ist dies das wohl beste Bild von Ernst Ludwig Kirchner in dieser Ausstellung, zumal es nahezu alle Facetten dessen enthält, was ihn am bäuerlichen Leben in den Alpen faszinierte, und bäuerliches Leben heißt, das macht diese Ausstellung exemplarisch deutlich, vor allem das Leben der Tiere.
Da ist zum einen die Auswahl. Kirchner malte nicht Wildtiere wie Steinbock oder Adler, er widmete sich den Tieren des Bauernhofs und der Alm. So sehen wir Kühe, Ziegen, Schafe, die Nutztiere der Bauern also, und wir sehen gelegentlich auch, wenn diese aus den Tieren Nutzen ziehen, etwa indem sie sie melken. Doch gerade dieses Melken ist für beide Seiten wichtig, die Kühe müssen die Euter geleert bekommen, die Bauern brauchen die Milch, und so erscheinen auf Zeichnungen mit melkenden Bäuerinnen Mensch und Tier in enger Symbiose, fast als Einheit. Ansonsten fehlen solche Nutzanwendungen, wir sehen keine Pferde, die Pflüge ziehen, oder Schafe, die geschoren werden. Wenn Schafe, dann in einer fröhlich über eine Wiese ziehenden Herde.
Und das ist der zweite Aspekt, der ins Auge fällt: Kirchner malt keine einzelnen Tiere. Lediglich bei der weißen Kuh schuf er ein Tierporträt, das Bild wird allerdings nur in Biberach zu sehen sein, der zweiten Station dieser Ausstellung, aber in Bietigheim hängt dafür das große Foto, das Kirchner von diesem schönen Tier aufgenommen hat. Ansonsten sehen wir die Tiere in der Mehrzahl, meist in einer Herde, und auch da macht Kirchner, dessen Tierbilder immer hochgradig symbolisch sind, deutlich, was eine Herde ist: keine Ansammlung von Einzeltieren, sondern eine Gemeinschaft. Die Tierkörper scheinen geradezu miteinander zu einem Riesenkörper verschmelzen zu wollen. Gemeinschaftlichkeit heißt Herde, auch gemeinsames Wollen.
Zwei grasende Kühe, 1917/18 © Buchheim-Museum der Phantasie. Foto: Nikolaus Steglich
Wie eng die Partnerschaft der Tiere auf diesen Bildern ist, zeigt ein Holzschnitt mit zwei grasenden Kühen. Da gibt es keinen Futterneid, das ist ein friedliches Miteinander. Überhaupt strahlen diese Tiere etwas Friedliches aus, was Kirchner möglicherweise zu einem neuen Umgang mit der Linienführung gebracht hat. Wiesen seine Großstadtbilder aus Berlin noch zackige Linien auf, Hektik, wirken sie hier gerundet. Er ist zwar immer noch, vor allem in der Wahl der Farben, reiner Expressionist, doch sein Lebensgefühl, das sich hier ausdrückt, ist ein anderes.
Noch etwas zeigt der Alpabtrieb. Die Tiere auf Kirchners Bildern sind in Bewegung, und zwar in ruhiger Bewegung. Langsam steigen die massigen Körper nach unten, wie es ihre Art ist, auch wenn der Hirte sie heftig anzutreiben versucht.
Immer wieder zeigt sich ein Gegensatz zwischen Mensch und Tier. Die Tiere sind in dieser Welt zuhause. Kirchner lässt die Tierkörper nicht selten aus der Landschaft herauswachsen, ihr Fell hat die Farbe der Bergwege, sie stehen mit der Landschaft im Einklang; der Mensch wirkt eher wie ein Fremdkörper.
Bergziegen, 1920 © Courtesy Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern
Wie nahe sich Landschaft, Natur und Tier sind, zeigen vor allem einige grandiose Skizzen, auf denen Kirchner mit wenigen Strichen Tier und Bergwelt andeutet. Da sind Tierrücken und Bergrücken nahezu identisch.
Die Qualität dieser Bilder erreichen seine ausschließlich der ländlichen Bevölkerung gewidmeten Bilder nicht. Ursprünglich sollten mehr Tierbilder in die Ausstellung kommen, doch der Ausleihbetrieb hat unter Corona gelitten, und so sehen wir vielleicht allzu viele Bilder ohne Tiere. Sie zeigen immerhin, wie hellsichtig Kirchner den Strukturwandel im Landleben bemerkte. Er zeigt Bauern bei sportlichen Betätigungen. Aber vielleicht sind diese Kontrastbilder auch von Vorteil, denn sie machen umso deutlicher, welches Bild von der Tierwelt Kirchner hatte. Es sind Wesen, die im Einklang mit der Landschaft und der Natur stehen. Sie haben hier ihre kongeniale Heimat. Die Menschen sind lediglich Bewohner.
„Ernst Ludwig Kirchner. Tierleben in den Davoser Alpen“, Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen bis 3.10.2021, danach vom 15.11.2021 bis 27.3.2022 Museum Biberach. Katalog 104 Seiten, 18 Euro