Es gibt Künstler mit einer unverwechselbaren Handschrift. „Man“ erkennt einen Picasso, einen Dalí, einen Schmidt-Rottluff. Dann wiederum gibt es Künstler, die in ihrer Laufbahn unterschiedliche und sogar sehr verschiedene Phasen entwickelt haben. Wer sich mit Winand Victor auseinandersetzt, ist allerdings mit einer solchen Vielfalt an Stilen, Techniken und Motiven konfrontiert, dass man sie kaum einem einzelnen Künstler zuordnen möchte. So finden sich figürliche Darstellungen neben abstrakten Kompositionen, Materialbilder und zurückhaltende flächige Gemälde, kosmische Visionen neben Großstadtbildern. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten, die all diese divergent wirkenden Arbeiten zur Einheit fügen, wie eine Ausstellung im Reutlinger Spendhaus zeigt.
Spuren und Funde heißt eine Graphikmappe, die Winand Victor 1967 schuf. Sie steht im Zentrum der neuen Ausstellung. Es ist kühn, eine Gedenkausstellung eines Künstlers nach einer Graphikmappe zu benennen, denn Mappen werden selten gezeigt, sind nicht so populär wie die Gemälde. Und doch hat Maren Keß-Hälbig mit dieser Entscheidung einen zentralen Aspekt im Gesamtschaffen dieses Künstlers in den Vordergrund gerückt. So finden sich die wie Versteinerungen wirkenden rätselhaften Gebilde, die unter der Erdoberfläche lagern, in seinem Werk immer wieder – und das in unterschiedlicher Deutung. Schwarz-weiß in der Mappe von 1967 wirken sie wie Relikte aus früheren Erdzeitaltern, wie man sie auf der Schwäbischen Alb vor den Toren von Reutlingen, wo Victor sein langes künstlerisches Leben verbrachte, allenthalben findet. Insofern kann man in ihnen „Spuren“ sehen, die der Künstler in der Landschaft vorfand. Doch sind sie, die mal an versteinerte Lanzetttierchen, mal an Pantoffeltiere erinnern, reine Fantasiegebilde. Zudem wirken sie ungewöhnlich groß und sind in ihrer Rätselhaftigkeit rein symbolisch zu nehmen. Man kann darin Todesmahnmale vergangener organischer Existenzen sehen, aber auch „Keime“, in denen bereits Leben schlummert, das nur noch zum Leben gebracht werden muss. Es kann erkaltetes Gestein sein, aber auch glühende Lava, die unmittelbar zur Eruption drängt. Winand Victor zeigt in seinen Arbeiten, wie ein einziges Motiv zu unterschiedlicher Deutung Anlass geben kann je nach Farbgestaltung oder Titel.
So finden sich in einem späten Bild diese Gebilde wieder, doch diesmal schweben sie über einer Erdoberfläche, als wollten sie sich ätherisch gen Weltall erheben. Verabschiedung heißt dieses Bild – ein Thema das sich wie ein Leitmotiv durch das gesamte Schaffen zieht, denn Abschied von der Welt gestaltete Victor immer wieder. Gleich nach dem Krieg stellten seine Bilder die Frage, ob eine Rückkkehr in die Zivilisation nach der Weltkatastrophe möglich sei, und die Bilder sprechen ein ziemlich klares Nein. Kriegsversehrt stehen da einzelne Figuren in einer öden Landschaft, im Hintergrund die Stadt als Inbegriff menschlicher Zivilisation, unerreichbar für die Heimkehrer.
Kein Wunder, dass sich die Menschen aus seiner Bildwelt dann auch bald verabschiedeten. Es blieb die Welt unter der Erdkruste. Als die Menschen dann wieder in sein Werk eintraten, wirkten sie in anderer Weise „versehrt“, es fehlt ihnen jegliche Individualität. Wie Schemen geistern sie durch neblige Straßen, spiegeln sich Schaufenstern, gleichen mehr Schimären denn lebendigen Wesen. Auch sich selbst stellte Victor so dar. Man weiß bei einem Selbstporträt von 2006 nicht so recht, ob sich der Künstler auf uns zubewegt oder ob er im nebligen Hintergrund ins Nichts entschwinden will.
So wählte Victor denn alsbald auch eine extrem erhöhte Perspektive, von der aus die Menschenbewegungen nurmehr wie Ameisenvölker in geschäftigem Treiben wirken.
Das alles ist, auch das deutet sich in der Spuren-Mappe an, hochgradig symbolisch. Victors Bilder entziehen sich der konkreten Deutung, immer wieder meint man, andere Dimensionen entdecken zu können, gerade weil immer wieder ähnliche Motive neu gestaltet sind. So findet sich immer wieder die in einigen Spuren-Graphiken eingezogene gebogene, weiß strahlende Linie – mal ist sie als Meteor zu deuten, der durch den Eintritt in die Erdatmosphäre verglüht, mal als Energie, aus der neues Leben entsteht, die Silhouette einer Stadt beispielsweise, die sich schon in den 50erJahren in seinem Werk findet. So ist es kein Wunder, dass er sich in weiteren Mappen immer wieder der menschlichen Zivilisation widmete, mal in Einzelporträts von Städten, in denen er in den Straßenplänen zugleich Hinweise auf die Geschichte der Stadt entdeckt – im Plan des von der Lederindustrie geprägten Reutlingen ein Stück braunes Leder, bei Paris die Trikolore.
Vielschichtig sind diese Darstellungen. In seinem Florenz-Zyklus arbeitet er raffiniert mit Collagen unterschiedlichster Art, in denen sich auch Zeitdimensionen ausdrücken. In der Stadt der Renaissance entdeckt er die Grundlegung heutiger Zivilisation mit Sportwagen und Börsenkursen.
So kristallisiert sich in diesen so unterschiedlichen Bildcharakteren ein in sich erstaunlich geschlossener Kosmos eines Künstlers, der die brillant beherrschten unterschiedlichsten Techniken stets zu einer Aussage nutzt, nicht als Selbstzweck, und in dessen Gedanken letztlich der Mensch eine zentrale Stellung einnimmt, so gefährdet dessen Existenz in der Welt von heute auch sein mag.
„Spuren und Funde. Winand Victor zum 100. Geburtstag“, Kunstmuseum Reutlingen/Spendhaus bis 7.10.2018. Katalog 96 Seiten, 20 Euro