Eine rätselhafte Kombination von realistischer Malerei mit abstrakten Bildelementen – das macht das Wesen dessen aus, was seit rund zwanzig Jahren unter dem Begriff der Neuen Leipziger Schule den Kunstmarkt beherrscht, wobei die Künstler, die gemeinhin unter diesem Begriff subsumiert werden – Neo Rauch, Tim Eitel, Katrin Heichel – eine Zugehörigkeit zu einer solchen „Schule“ bestreiten; zu unterschiedlich sind denn auch ihre Arbeiten, auch wenn sich die Kombination dieser konträren Bildsprachen immer wieder in ihrem Werk findet. Dass eine solche Kombination keine neue Erfindung ist, dass schon Jahrzehnte, ehe ein Neo Rauch seinen heutigen Stil gefunden hatte, Künstler mit diesen Bildsprachen spielten, zeigt eine Ausstellung im Kunstverein Böblingen.
Der Fall scheint eindeutig. Ein Anstreicher ist im Endstadium mit seiner Farbausgestaltung einer Hausfassade. Unten links fehlen noch ein paar Tupfer mit der Farbrolle, dann ist er fertig. Doch es ist ein seltsames Haus: Es hat keine Fenster, die Fassade besteht auch nicht aus einem Anstrich, sondern aus rechteckigen Platten, ein Plattenbau aber ist es auch nicht, eher ein geometrisch konstruktivistisches Gebilde, und das Gewölk dahinter wirkt nicht wie ein Wolkenhimmel, sondern wie impressionistische Malerei. Volker Blumkowski erweckt beim Betrachter den Eindruck einer fast realistischen Szene, einer alltäglichen gar, denn er besiedelt seine Bildwelten gern mit Bauarbeitern, doch dann irritieren kleine Details die erste Deutung, und alsbald ist der Betrachter mit ganz gegensätzlichen Deutungsversuchen konfrontiert. Die so real wirkende Bildwelt entpuppt sich als rein künstliches Gemälde.
Auch bei Andrea Eitel scheint zunächst alles eindeutig. Auf dem Bild Messe präsentiert sie dem Betrachter den Blick in einen modernen Glaspalast, es könnte statt einer Messehalle auch der Wartebereich eines modernen Flughafens sein. Keine Mauern versperren den Blick, alles ist transparent mit Glaswänden ausgestattet, doch gerade diese Glaswände verhindern eher den Blick in den Raum, als dass sie ihn beförderten.
Wir erkennen zwar Personen in diesem Raum, aber sie scheinen sich dem Blick entziehen zu wollen. Wir sehen weniger lebende Wesen durch eine transparente Scheibe als vielmehr Gestalten aus einem Traum, unwirklich, schimärenhaft. Auch Andrea Eitel arbeitet mit dem Alltagsgedächtnis der Betrachter. Doch die Sicherheit, die das Auge im Alltag bei seiner Orientierung in der Welt hat, wird auf ihren Bildern dem Betrachter entzogen. Da schreitet ein seriös gekleideter Herr mit Fotoapparat eine Treppe hinab – es könnte eine Steintreppe in einem alten Innenhof sein, an den Wänden befinden sich Fresken, auf einer Säule ist eine Skulptur erahnbar, doch die Skulptur sehen wir nicht, obwohl sie das Wichtigste auf diesem Bild ist, trägt es doch den Titel Das Motiv. Das zentrale Bildelement fehlt, wir sehen nur das Medium, das uns dieses Element vermitteln könnte, denn der Mann schaut zur Säule hinauf.
Ein ähnliches Spiel findet sich bei einem Selbstporträt. Frontal scheint uns die Künstlerin vom Bild entgegenzublicken, doch der Eindruck täuscht: Nicht sie blickt uns an, wir schauen lediglich in ihr Spiegelbild, von der eigentlichen Person sehen wir lediglich den Hinterkopf, die Haare. Die Seele des Menschen, sein Ich, wie es sich im Gesicht spiegelt, das auf einem Bildnis traditionell im Zentrum steht, bleibt uns verborgen, wir sehen lediglich einen Abklatsch, ein Surrogat, seitenverkehrt, wie ein Spiegelbild nun einmal ist, flach, ohne Tiefe.
Dieses Spiel mit irreführenden Bildtiteln findet sich auch bei Volker Blumkowski. Gleis 23 II heißt ein Gemälde. Wir scheinen uns in der Tat in einer U-Bahnstation zu befinden, doch weitaus wichtiger als das Gleisbett ist ein Bild, das zwei Plakatankleber soeben mit ihren Bürsten auf die Wand anbringen. Es ist ein Gemälde von Picasso, deutlich erkennbar dessen Desmoiselles d’Avignon. Aber kleben die Arbeiter wirklich lediglich das Plakat an die Wand, oder scheinen sie nicht vielmehr mit ihren Bürsten die Bildelemente, die Frauenkörper auf dem Bild zu liebkosen? Mehr noch: Einer der beiden Männer scheint in das Picassogemälde hineinzuschlüpfen, Teil des Gemäldes zu werden, das Blumkowski auf seinem Bild wiedergibt. Derartige Zitate aus der Kunstgeschichte finden sich immer wieder. So spielt er mit dem eingangs erwähnten Bild von der seltsamen Hausfassade auf ein Gemälde seines Kollegen Sigmar Polke an. Dem hatten einem Bildtitel zufolge wohl einmal „höhere Wesen“ den Befehl gegeben, die linke obere Ecke schwarz malen. Bei Blumkowski sind es „Geister“, die befehlen: „Linke untere Platte BLAU“.
Auch bei Andrea Eitel findet sich immer wieder der Griff in die Kunstgeschichte. Ihr Spiel mit den Spiegelungen im Selbstporträt könnte durch das Bild Las meniñ
as von Velazquez inspiriert worden sein, bei dem man sich auch ständig fragt, was ist real, was Spiegelung. Und ihre eine Treppe herabschreitenden Gestalten mit dem Titel Choreographie erinnern an Oskar Schlemmers Bauhaustreppe.
Und doch sind beide Künstler höchst unterschiedlich. Andrea Eitel geht von realen Raumvorstellungen aus und hinterfragt sie dann, Volker Blumkowski baut seine Bildwelten letztlich aus abstrakten Bildelementen auf und evoziert trotzdem den Eindruck einer Alltagswelt. Beiden gemeinsam ist, dass sie die Kunstgeschichte raffiniert fortschreiben.Galt das Gemälde jahrhundertelang als Blick durch ein Fenster in eine Welt, in die der Betrachter mit dem Auge als Gast Eingang finden kann, so wurde das Bild spätestens seit Cézanne zum reinen Farbgeschehen auf einer Fläche. Andrea Eitel und Volker Blumkowski zeigen, dass auch in der Moderne realistisch anmutende Bildräume möglich sind, sie zeigen aber auch, dass sie mit denen in früheren Epochen nichts gemein haben. Sie vereinen gewissermaßen den Blick durch das Fenster mit der Bildfläche der Moderne.
„Figur und Bild. Malerei diesseits der Leipziger Schule. Kunstverein Böblingen bis 29.10.2017