In der Bibel hat sie keinen Namen: die Tochter der Herodias, die im Zusammenhang mit Johannes dem Täufer Erwähnung findet. Im 19. Jahrhundert avancierte sie zum Inbegriff von lasziver Erotik und Grausamkeit, Oscar Wilde machte sie zur Titelfigur eines Meisterwerks des Fin de siècle mit einer nahezu orgiastisch farbenreichen Sprache, und Richard Strauss setzte Wildes Drama kongenial in rauschhafte Musik um. Nun hat Demis Volpi, der Hauschoreograph am Stuttgarter Ballett, den Stoff für die Ballettbühne bearbeitet, und auch er hielt sich wie Richard Strauss eng an Wildes Text.
Das Drama beginnt mit einer Paralelle: Ein junger Syrier bewundert die Prinzessin Salome, ein Page ist fasziniert vom Mond, der einer jungen Prinzessin gleiche. Bei Volpi spielt dieser Mond neben Salome eine zentrale Rolle. Halbmondartig krümmt Alicia Amatriain ihren Tänzerinnenkörper, spreizt grazil die Beine ab, angestrahlt von einem fahlen weißen Licht – eine wahre Mondgöttin. Demgegenüber ist seine Salome, getanzt von Elisa Badenes, eine Kontrasterscheinung: vergleichsweise klein, grazil, in ein schwarzes kurzes Gewand gekleidet – gewissermaßen eine Sendbotin des Todes. Damit hat Volpi gleich zu Beginn seines Balletts dem Vorbild Oscar Wilde folgend seinen wesentlichen Spannungsbogen geschlagen: Der Mond „wie eine Tote“ – Salome, die Kindfrau, die den Tod bringen und selbst erleiden wird.
Und noch etwas übernimmt er von Wilde: Der Anblick beider Erscheinungen bringt Unglück, daher versucht der Page denn auch immer wieder, den Blick des verliebten Syriers von der Faszination des Unheils abzulenken.
Noch ist Salome nicht viel mehr als ein Teenager am Rande einer Gesellschaft, mit der sie nichts zu tun haben will, der lasziven, dem sinnlichen Genuss ergebenen Entourage ihrer Mutter Herodias und ihres Stiefvaters Herodes; sie sitzt weitgehend teilnahmslos und unberührt da. Erst als sie so etwas wie erotische Faszination empfindet, findet sie zum Tanz. Volpis Choreographie überzeugt nicht so sehr durch große Tanzszenen, als vielmehr durch kleine Gesten, durch Details: Erst die Entdeckung des Mannes ihrer Träume macht Salome zur Frau. Bei Oscar Wilde ist dieser Übergang raffiniert im Vagen belassen: Mal glaubt sich seine Salome verliebt in die Gestalt des Propheten Jochanaan, mal in seinen Kopf, dann wieder in seine Stimme oder Augen. Und auch Volpis Salome schwankt in ihrer Faszination, eine klare Liebe ist nicht erkennbar, soll es auch nicht sein. Während ihre Mutter Herodias den Inhalt ihrer Begierde im bloßen Sex gefunden hat, tastet sich Salome, noch im Zwischenbereich zwischen Mädchen und Frau, an das Phänomen Liebe heran. Volpis kleine Andeutungen führen zum Wesen seiner Charaktere.
Das gelingt ihm nicht immer. So zuckt und rebelliert im Kerker der Prophet wie ein Wahnsinniger, während er bei Wilde (und Richard Strauss) konsequenterweise souverän über allen anderen steht und seine Weissagungen mit unerschütterlicher Selbstsicherheit verkündet. Neben Herodias ist er die einzige Figur in diesem Stück, die nicht an sich zweifelt. Diese Selbstgerechtigkeit drückt er bei Volpi aber erst aus, als sich Jochanaan mit Salome konfrontiert sieht: Sie begehrt ihn, er lehnt sie ab. Wieder arbeitet Volpi mit kleinen Hinweisen. So wie der junge Syrier sehnsuchtsvoll die Hände nach der von ihm vergötterten Salome ausstreckt, sehnt sich Salome nach dem Körper des Propheten. Statt eines Pas de deux inszeniert Volpi zwischen beiden eine Kampfbeziehung, bei der er die traditionellen Rollenmuster umkehrt. Salome übernimmt wie ein Tänzer im Pas de deux die Führung, Jochanaan begnügt sich mit der passiven Rolle, die meist der Tänzerin zukommt.
Beim Tanz der sieben Schleier (den Wilde erfunden hat, jedoch in seinem Stück mit der kryptisch kurzen Anmerkung „Salome tanzt den Tanz der sieben Schleier“ abtut)
verzichtet Volpi dankenswerterweise auf einen erotischen Verführungstanz (ganz so, wie es auch Kyrill Serebrennikov in seiner Inszenierung der Strauss-Oper in Stuttgart vor wenigen Monaten getan hat). Seine Salome begnügt sich mit wenigen Standardbewegungen – mehr braucht es nicht, denn in der von sexuellen Obsessionen durchtränkten Gesellschaft an Herodes‘ Hof reichen kleine Gesten, um erotische Fantasien heraufzubeschwören.
Hätte Volpi es dabei belassen und gleich zum Ende übergeblendet – dem „Schlussduett“ mit dem einzigen Teil des Mannes, dessen Salome habhaft werden kann, mit dem Kopf – hätte er ein perfektes Psychodrama auf die Ballettbühne gebracht. Er wollte aber auch die Gegenwelt zu der rätselhaften Zweierbeziehung zwischen Salome und Jochanaan charakterisieren, die schwül-erotische, lüsterne, verkommene Luxuswelt von Herodias und Herodes, und da fiel ihm nicht viel mehr ein als konventionelle Erotismen in Kostüm und Bewegung. Dafür aber hätte er sich erheblich weniger Zeit nehmen sollen. So ergehen sich die Tänzer in sexgeschwängerten Klischeebewegungen, ohne dass eine tiefschürfende Charakterisierung der Figuren deutlich würde. Mehr als eine Männer verschleißende Gattin wird da aus Herodias nicht, und Herodes im Rollstuhl soll zwar die Schwäche und Entscheidungslosigkeit dieser Rolle bei Wilde demonstrieren, doch bleibt Volpi hier allzu lange im rein Dekorativen.
Und auch der innige „Tanz“ zwischen Salome und dem Kopf des Propheten erschöpft sich nach wenigen Minuten. Doch dann greift Volpi noch einmal den Anspielungsreichtum des Anfangs wieder auf: Salome, die zu Beginn in Habitus und Kleidung ein Gegenstück zur Göttin des Mondes war, gleicht sich jetzt dieser Gestalt immer mehr an. Was bei Wilde ein somnambules Spiel der erwachenden Erotik ist, mündet bei Volpi in eine Identifizierung von Mondgestalt und Titelfigur. In solchen Passagen erweist sich das Ballett dem Sprechtheater überlegen, denn es vermag Anspielungen im Zwischenbereich zwischen Rationalität der Sprache und Emotionalität des Bewegungsausdrucks zu gestalten, die anspielungsreich genug sind, zugleich aber offen bleiben für Interpretationen, ganz wie Oscar Wildes Stück um die schöne Prinzessin Salome.