Eine einzige Lebenslüge: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ am Schauspiel Stuttgart

Hat er überhaupt jemals richtig gelebt, dieser Willy Loman? 36 Jahre hat er sein Land als Vertreter bereist, bis er feststellen muss, dass er in seinem Beruf ein Versager war und nicht mehr die Kraft hat weiterzumachen. Von seinem Chef wird er in die Arbeitslosigkeit gestoßen, und das heißt in der amerikanischen Gesellschaft, in der nur der gesellschaftliche Aufstieg zählt, ins Nichts. Es bleiben ihm zwei Möglichkeiten: die Flucht ins endgültige Nichts, den Tod, oder die Flucht in die Selbstlüge. Beides exerziert Arthur Miller in seinem Klassiker über den „Tod eines Handlungsreisenden“ vor. Robert Borgmann hat am Schauspiel Stuttgart für beides erregende Bilder gefunden.

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Auf dem Bild: Susanne Böwe, Peter Kurth, Mabolo Bertling, Manuel Harder. Foto: Julian Röder

Am Anfang ist die Bühne leer, der Theatervorhang, jenes Stück Stoff, hinter dem sich Welten verbergen, hinter dem aber auch Welten verschwinden können, hängt weit im Hintergrund auf der Bühne herab. Langsam, anfangs kaum merklich, bewegt er sich vor, bis er sich fast bedrohlich nah an der ersten Zuschauerreihe befindet; dann weicht er wieder zurück und gibt zwei Bühnenfiguren frei, denn das ist ja letztlich die Realität, die sich hinter einem Bühnenvorhang befindet – und das ist genau genommen auch das, was von Willy Lomans Leben übrig geblieben ist. Dieser Mann spielt sich und seiner Familie seit Jahren ein Märchen vor, das Märchen vom amerikanischen Traum, und in diesem Märchen sind alle erfolgreich: er selbst, seine Familie, sein Sohn Biff – jedenfalls in seinen Tagträumen, wenn er in Klischeeformulierungen verkündet, wie großartig sie alle seien. In seinen Nachtträumen freilich ist er der kleine Mann, der seit jeher dem Ideal seines erfolgreichen Bruders Ben nachhängt. Borgmann inszeniert auch diese fiktiven Zwiesprachen in Millers Stück als reines Makebelief: Ben tritt auf wie der Urvater aller Amerikaner, Präsident Washington.

Willy wird kleinmütig – Peter Kurth findet für jede dieser psychischen Befindlichkeiten den richtigen Ton, vom auftrumpfend ermunternden den Söhnen gegenüber bis zum kleinmütig verzweifelten, wenn er allein auf der Bühne steht und mit seinem Schicksal hadert – und Regisseur Robert Borgmann lässt den Figuren Raum zum Alleinsein. Die Bühne ist nahezu leer, einige Requisiten müssen ausreichen, und wenn Willy Loman bei ihm seinen ersten Auftritt hat, dann nicht als wohlgekleideter Vertreter eines amerikanischen Unternehmens, sondern mit einem Tüllkleid um die Hüften. Den Anzug trägt seine Frau.

Dieser Lebensgefährtin gegenüber ist er denn auch ehrlich, ihr gegenüber gibt er zu, dass der am Ende ist, eine Witzfigur, über die alle lachen; doch die Tragik mildert er gleich im nächsten Augenblick mit einer seiner Selbstverblendungen: Vielleicht sei er ja falsch angezogen – Borgmann macht mit seiner Kostümwahl deutlich, wie Recht Loman hat, nur ist es hier nicht mehr nur eine Frage der richtigen Krawatte, das Gewand, das Loman bei ihm trägt, ist existentiell falsch, so wie seine ganze Lebensgeschichte: Loman ist kein Mann, wie ihn sich die amerikanische Gesellschaft wünscht.

Von Anfang an macht Borgmann durch kleine Hinweise deutlich, dass hier ein Mann nicht nur zugrunde geht, weil er nicht das nötige Geld für den Lebensunterhalt aufbringt, sondern weil er sich selbst verloren hat, weil er nicht mehr ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, sondern eine Gestalt, die ihre Existenzberechtigung letztlich nur noch in den Träumen vom gelungenen, erfolgreichen Leben im American Way of Life hat.

Willy Loman ist sogar vor sich selbst eine fiktive Figur. Arthur Miller macht das deutlich durch zahlreiche Zeitsprünge: Loman spricht mit seinem Bruder Ben, den er Jahrzehnte nicht mehr gesehen hat, Loman gaukelt sich vor, seinen Söhnen stünde eine glorreiche Zukunft bevor, Loman schwadroniert – bei Borgmann ist Loman konsequenterweise schon gleich zu Beginn eine Figur, die der Bühnenvorhang freigibt – und wenn Loman am Ende einsehen muss, dass sein ganzes Traumgerüst zusammenbricht, fallen auch die spärlichen Bühnenrequisiten in sich zusammem, allen voran der Vorhang der großen Theaterillusion. Bühnenarbeiter treten auf mit all dem, was Bühnenzauber ausmachen kann: Gewehre, die losgehen, ein Pferd, das dem trojanischen Krieg eine neue Wendung geben könnte, Feuerschwaden, die in Schall und Rauch aufgehen wie Lomans Leben.

Borgmann verzahnt noch sehr viel stärker, als Miller es auf der Bühne der 50er Jahre tun konnte, Traum und Wirklichkeit; ständig sirrt im Hintergrund eine zarte Livemusik, die kaum hörbar ist, dem ganzen Geschehen aber etwas Unwirkliches verleiht, und bei all dem ist Borgmann ganz dicht an Millers Text. Eine solche freizügige Bühnensprache bei gleichzeitiger genauer Textexegese ist selten geworden auf unseren Bühnen. Selbst die brennend gleißende Abendröte, die gegen Ende am Bühnenhintergrund aufzieht und vor der schwarzes Gewölk aufzieht, hat ihre Textgrundlage in einer Formulierung, die sich wie ein Leitfaden durch das Stück zieht: Die Wälder brennen.

Diese Dichte erreicht Borgmann in der zweiten Hälfte des Abends nicht mehr, zumal er sich da deutend doch etwas von Millers Stück entfernt. Happy, Lomans jüngerer Sohn, versucht sich vergeblich im Revuekostüm an einem Stahlgestänge, das erst umständlich auf die Bühne gefahren werden muss. Das kann man als Bild des Scheiterns deuten, ist aber viel zu lange ausgespielt. Zudem insinuiert Borgmann, Happy sei schwul – so wie auch der ältere Sohn Biff kurz in diesen Ruf gerät. Das ist überflüssig, trägt nichts zum eigentlichen Thema des Stückes bei. Erst am Ende findet Borgmann wieder zum poetischen Bild, wenn Loman zu tanzen beginnt, längst Teil einer anderen Welt. In diesem Moment hat er die Last, die sein ganzes Leben für ihn bedeutet hat, abgeworfen.

Es ist eine subtile Deutung eines Stückes, das sich aus der gesellschaftlichen Realität Amerikas früherer Jahrzehnte speist, aber in Borgmanns Inszenierung zeitlos wirkt – verkörpert von einem Schauspielerteam, in dem der grandiose Peter Kurth umgeben ist von großen Schauspielerpersönlichkeiten. Jule Böwe findet genau den richtigen Ton für die Ehefrau und Mutter, die den Familienkarren am Laufen hält, die sachlich, nüchtern und zugleich zärtlich verliebt in ihren Willy ist; handlung1

Auf dem Bild: Philip Weber, Peter Kurth, Manuel Harder. Foto: Julian Röder

Manuel Harder als Biff schwankt feinfühlig zwischen jugendlichem Aufbegehren und verzweifelter Melancholie, zwischen Revolte gegen den Vater, den er eigentlich nicht ernst nehmen kann, und Zärtlichkeit für einen Mann, den er doch seit seiner Kindheit liebt und der erst durch eine Affäre in seinen Augen jede väterliche Autorität verloren hat.                             

Es ist ein Abend großer Seelendramatik, verkörpert durch leise Töne – Theaterkunst.

Ein Gedanke zu „Eine einzige Lebenslüge: Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ am Schauspiel Stuttgart

  1. Gramling

    Lieber Herr Zerbst,

    soll ich doch hingehen. Musste erst Mal den Verriss des Kollegen Roland Müller.
    Jetzt schreiben Sie es war doch gut.
    Da bin ich ins Nachdenken gekommen und werde Frau Doreen um zwei Karten bitten.

    Herzliche Grüße Karin Gramling

    P.S. Hoffe, Sie genießen das schöne! Kritikerleben und die Kräuter.
    Das Bild, das sie uns geschickt haben, haben wir ausgedruckt. In Farbe. Es hängt im Din A 4 Format in der Redaktion. Wir legen davor öfter ein Gedenkminute ein……

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