Ballettdirektoren haben es nicht leicht heutzutage: Die Zeit abendfüllender Handlungsballette ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vorbei. Wer einen neuen Ballettabend auf die Bühne bringen will, damit er den Namen „Premiere“ verdient, ist auf Fantasie angewiesen, muss sogar eine Art Quadratur des Kreises zustande bringen, muss Arbeiten aus dem Fundus sinnvoll mit Neuem kombinieren, ohne dass ihm der Vorwurf der Beliebigkeit gemacht werden kann. Das schaffte Reid Anderson in der Vergangenheit weitgehend, mit dem neuen „Premierenabend“ ist ihm ein kleines Wunderwerk gelungen, obwohl er nur ein völlig neues Stück zur Verfügung hatte und die beiden Ergänzungen des Abends bereits ein Vierteljahrhundert alt sind.
„Hauschoreographen“ lautet die äußerliche Klammer der drei Arbeiten des Abends, und wer am Stuttgarter Ballett einmal diese Position innehatte (die früher oftmals „resident choreographer“ hieß), dem war danach meist eine glanzvolle Karriere beschieden – wie etwa Uwe Scholz, der mit 19 Jahren bereits „ständiger Choreograph“ in Stuttgart wurde, mit 26 das Ballett in Zürich übernahm (als jüngster Leiter eines europäischen Tanzteams, und eines renommierten dazu), und mit 28 Jahren zum Chefchoreographen in Leipzig ernannt wurde, ehe er dann mit nur 45 Jahren starb. Seine Choreographien zeichnen sich durch eine hochsensible Musikalität aus – unübersehbar in seiner Arbeit zu Beethovens 7. Sinfonie, mit der der neue Ballettabend in Stuttgart endete. Diese „Apotheose des Tanzes“ (Richard Wagner) beginnt mit strahlenden Akkorden; bei Uwe Scholz schießen hierzu die Körper der Tänzerinnen triumphal in die Höhe, um dann der Musik entsprechend wieder niederzusinken. Hell gleißend leuchtet zu solchen jubilierenden Tönen das Licht auf, Scholz hat in jeder Sekunde die Musik in Bewegung, Licht und Gruppenkonstellationen umgesetzt. Das ist faszinierend anzusehen, Ästhetik pur, aber in der strikten Parallelität von Musik und klassischem Bewegungsrepertoire auch schon etwas einer früheren Epoche angehörend, nicht zuletzt, da die Tänzerinnen in jeder Jubelphase auch noch strahlende Miene zu ihren Bewegungen machen müssen.
William Forsythe, dessen Ballett „The Second Detail“ von 1991 in Stuttgart Premiere hat, kommt ebenfalls vom klassischen Tanz, wenn auch modern gedeutet durch amerikanische Vorbilder wie Altmeister Georges Balanchine. Doch selbst diese moderne Deutung bricht Forsythe immer wieder auf. Zu stampfenden elektronischen Klängen von Thom Willems lässt er den klassischen Tanz gewissermaßen an die Wand laufen – er kippt in rhythmisch akzentuierten Jazztanz um oder sogar in ausgelassenes lateinamerikanisches Tanztemperament, kehrt aber immer wieder zur Tradition zurück, so als frage sich der Choreograph unablässig: Wohin kann der Tanz ausbrechen, wo könnten neue Dimensionen liegen.
Forsythe ist in die Geschichte des Tanzes als der große Dekonstrukteur eingegangen, sein „Second Detail“ ist in dieser Hinsicht allerdings nicht sein radikalstes Beispiel, es wirkt eher wie der erste tastende Versuch in diese Richtung. In einem weißen Kubus sitzen die Tänzer teilweise auf Stühlen, als befänden sie sich im Probensaal, erheben sich dann, beginnen ein paar Bewegungen, wie absichtslos, bis sich daraus unvermittelt andere Tanzpassagen mit völlig neuen Ausdrucksformen entwickeln, um dann meist wieder ins Neoklassische zurückzukehren. Kaum zu glauben, dass diese beiden Ballette in ein und demselben Jahr entstanden – der Klassizismus von Uwe Scholz, das Aufbegehren gegen die Tradition von Forsythe.
Jetzt, 25 Jahre danach, hat Marco Goecke Forsythes Ansatz ins Extrem weiter getrieben, schließlich ist auch sein „Markenzeichen“ die Dekonstruktion der Körperbewegungen, wenn auch ungleich radikaler. Dabei scheint er in diesem Fall bewusst unmittelbar an seinen Vorgänger als Stuttgarter Hauschoreograph anzuknüpfen.
So taucht, als Episode, bei Forsythe kurz eine Tänzerin im weißen kurzen Kleid auf – Agnes Su – ein Fremdkörper in der bis dahin so strikten Laborsituation; dieselbe Tänzerin hat auch bei Goecke in dessen ansonsten rein mit Männern besetzten neuen Stück einen kurzen Auftritt. Goeckes neue Kreation – „Lucid Dream“, also „Wachtraum“ oder „Traum bei klarem Verstand“ – scheint auf den ersten Blick ein typischer Goecke zu sein. Die Gliedmaßen der Tänzer verselbstständigen sich in Einzelteile, sie zittern staccatoartig – neu aber ist Goeckes Wahl der Musik: Das Adagio aus Gustav Mahlers letzter, unvollendeter Sinfonie, und das ergibt ein Kontrastprogramm: Während die Musik von Gustav Mahler fast stillzustehen scheint, sind die Gliedmaßen der Tänzer in unablässiger Bewegung, wie man es von Goecke kennt: Unruhe bemächtigt sich der Körper – und der Zuschauer. Goeckes Ballette sind wahre Zitterpartien – und doch zeigt er hier zu der bei ihm ungewohnten sinfonischen Musik neue Akzente. Ungewöhnlich häufig halten die nervös wirkenden Körper inne, Goecke hat in diesem Ballett fast so etwas wie die Kunst des Legato für sich neu erfunden. Immer wieder finden seine Tänzer zur Ruhe, gelegentlich „angeleitet“ durch eine Art Mentor oder gar Psychologen – oder eben durch die als Intermezzo auftauchende Tänzerin.
Zugleich gelingt ihm ein Psychogramm. Zwar ist auch dieses Goecke-Ballett ohne Handlung, doch bringt er mit den Körpern psychische Dispositionen auf die Bühne. Die Charaktere scheinen sich nicht wohl in ihrer Haut zu fühlen, messen unablässig ihre Bewegungsmöglichkeiten ab, stoßen an Grenzen, verzweifeln, nicht selten stöhnen oder schreien sie sogar auf. Das hat mit der Bewegung von Mahlers Musik an der Oberfläche häufig wenig zu tun – auch das kennt man von Goecke, dessen Choreographien gelegentlich wirken, als sei die Musik nebensächlich, reine Zutat. Hier aber hat er aus Mahlers Musik das Verzweifelte herausgehört – und in seinen Figuren auf der Bühne verkörpert – faszinierend, atemberaubend, beklemmend wie oft bei Goecke und zugleich doch auch ein Goecke, wie man ihn so bislang kaum erlebt hat.
Insgesamt ist dieser neue Stuttgarter Ballettabend eine Studie in Sachen Musik und Bewegung: Beide können in harmonischem Gleichklang auf die Bühne kommen wie bei Scholz, beide können subtil in leise Diskrepanz zueinander geraten wie bei Forsythe, und beide können scheinbar nebenher existieren und sich doch zu einem Ganzen fügen wie bei Goecke – ein Abend der choreographischen Gegensätze, letztlich aber von einer Grundidee beseelt.