Ein tänzerisches „Und dennoch“: Response II beim Stuttgarter Ballett

So groß die Ballettbegeisterung auch ist, bei 15.000 Neuinfektionen pro Tag kann man, um mit der Bundeskanzlerin zu sprechen, auch im Ballettbesuch unnötige Kontakte sehen. Umso wichtiger war das Angebot des Stuttgarter Balletts, den neuen Abend auch zuhause als Streaming miterleben zu können, zumal die Neugier groß war. Unter dem Titel Response hatte Ballettdirektor Tamas Detrich im Juli drei Uraufführungen auf die Bühne gebracht, und alle reagierten auf unterschiedliche Weise auf die Lage, in der wir alle uns, vor allem aber auch die Tänzer, durch Corona befinden, und das Ergebnis war fulminant. Jetzt hat Detrich dem choreographischen Nachwuchs die Bühne ermöglicht, Response II. Und auch hier war Corona allenthalben zu spüren.

Fabio Adorisio, Flemming Puthenpurayil © Stuttgarter Ballett

Schon die Musikauswahl kann man als Botschaft deuten. Für ihr Stück Chrysalis wählte Vittoria Girelli For Ever And Ever And Ever Alone von Craig Armstrong – eine Schreckensvision, aber Rückzug von den Mitmenschen, der Mitwelt war im Frühjahr das Gebot der Stunde und ist inzwischen wieder dringend angemahnt. Der Musiktitel hat durchaus enge Bezüge zum tänzerischen Geschehen, denn es ist zwar ein Stück für vier Tänzer, doch häufiger als zu viert sehen wir sie einzeln – Isolation, Einsamkeit. Konterkariert wird diese negative Sicht durch die Tatsache, dass wenn die Tänzer zu mehreren auf der Bühne sind, ein offenbar unstillbares Sehnen nach Gemeinsamkeit ihr tänzerisches Verhalten prägt. In fließenden Gewändern, ebenfalls von Vittoria Girelli entworfen, entwickeln Elisa Ghisalberti, Fabio Adorisio, Matteo Miccini und Flemming Puthenpurayil ein Widerspiel zwischen solipsistischem, ganz auf das eigene Ich konzentriertem Leben und einer Gemeinsamkeit, die sich im Miteinander wie von selbst ergeben kann. Selten sieht man vier Solotänzer so oft in symmetrischem Bewegungsgleichklang wie in diesem Stück. Es ist ein choreographisches Plädoyer, der Isolation zu entkommen und soviel Gemeinsamkeit wie möglich aufzubringen.

Ein ähnlicher Aufruf zu zumindest vagem Optimismus findet sich in Agnes Sus Resonanz. Zur rhythmisch akzentuierten Musik von Steve Reich wirken Rocio Aleman, Daiana Ruiz, Clemens Fröhlich und Christian Pforr zunächst wie Figuren in einem Schattenreich, wie Scherenschnitte, müssen erst allmählich „zu sich“ kommen, führen eher alltägliche Bewegungen aus wie normales Gehen, scheinen sich den Tanz erst Schritt für Schritt erobern zu müssen, bis sie ihn dann zu Julius Klengels Hymnus für 12 Celli gefunden haben. Über allem hängt eine einzelne Glühbirne, Symbol für Licht, das man gerne am Ende des Tunnels sehen möchte, und wie in einem plötzlich alle Tänzer erfassenden Trotz recken sie die Hand nach oben, dem Licht entgegen, als könne ihre Hoffnung trotz allem nicht untergehen.

Licht findet sich auch in der Arbeit von „Aliunde Levi“ von Aurora De Mori – ein Solo für die Tänzerin Hyo-Jung Kang. Sie tanzt faszinierend zu den anfänglichen Trommelklängen den Versuch, sich den Tanz erst zu erobern, ihn dem Alltag abzuringen.

Hyo-Jung Kang © Stuttgarter Ballett

Verzweiflung spricht aus ihren anfänglichen Gesten und Posen, eine Verzweiflung, die im zweiten Teil zu den fließenden Flötenklängen der Musik sich beruhigt; nun findet sie auch zu sich selbst – ein tröstliches Stück gegen die Widerstände der Welt auf dem Weg zum inneren Ruhepol.

Einen solchen Ruhepol scheint es im ersten Stück des Abends nicht zu geben. Aedis – Tempel nennt es Alessando Giaquinto, aber es ist eher die Klause von Einsiedlern. Mithilfe von Schlaglichteinsatz gestaltet er auf der Bühne einzelne Räume, die wie von Mauern voneinander getrennt sind. Der erste ist ein düsterer Raum, karg möbliert mit einer schwarzen Matratze, darauf eine Frau.

Anouk van der Weijde © Stuttgarter Ballett

Sie schläft, ist aber geplagt von Alpträumen, wirft sich herum, steht gelegentlich auf, versucht mühsam, sich in der düsteren Welt zurecht zu finden – ein Mensch in Einsamkeit, der nicht zur Ruhe kommen kann. Von dem Raum der Tänzerin ist der zweite Raum durch einen schwarzen Schattenbalken getrennt, eine Art Wand. Kommunikation zwischen beiden Bereichen und Akteuren ist unmöglich. Auch in diesem Raum kommt kein Wohlgefühl für den Bewohner auf. Der Tänzer fasst sich an den Kopf, versucht sich mit zögernden Bewegungen im Raum zu orientieren – vergeblich. Auch hier eine Existenz auf sich stellt. Ganz anders die beiden Tänzer im dritten Lichtraum. Sie – auch im privaten Leben der beiden Tänzer ein Paar – versuchen rund um einen Tisch eine Art Normalität zu etablieren – ein Versuch, der keineswegs stets gelingt. Und dann stockt dem Zuschauer fast der Atem, denn obwohl die vier Tänzer in unterschiedlichen Räumen voneinander getrennt sind, sich nicht sehen, bewegen sie sich plötzlich im Gleichklang – Paartanz trotz räumlicher Distanz, emotionale, psychische Nähe trotz Trennung ist möglich. Das ist ein kurzer Moment des Glücks, von Miriam Kacerova, Roman Novitzky (dem Paar) und Anouk van der Weijde und Timoor Afshar kongenial tänzerisch umgesetzt.

Begegnung, Paarbeziehung scheint im letzten Stück des Abends möglich, auch wenn das Ambiente von „Mehlberg“, das Shaked Heller, auch er wie vier der fünf Choreographen des Abends für Tanzkostüme und Bühne zuständig, eher an eine psychiatrische Anstalt oder ein Verlies erinnert. Ein an die Theaterwelt Samuel Becketts erinnernder grauer Betonraum mit immerhin sieben Türöffnungen, durch die dennoch ein Ausweg kaum möglich zu sein scheint. Die drei Tänzer – Elisa Badenes, Angelina Zuccarini und Louis Stiens – bewegen sich zwar in diesem gemeinsam bewohnten Raum, können jedoch nicht aus sich heraus. Alle ihre Bewegungen kreisen um den eigenen Körper. Eckig versuchen sie, aus diesem Körpergefängnis auszubrechen, doch immer wieder sehen sie sich auf sich selbst zurückgeworfen. Der Körper, das Ich, als Gefängnis. Eine „Außenwelt“ scheint es nicht zu geben.

Gerade weil es in allen Stücken immer wieder um Körperlichkeit, Nähe und Distanz geht, ist der Bildschirm kein Ersatz für das Liveerlebnis im Theater, doch die Kamera gab mit einer Totale und einer Halbtotale genau den Blick auf die Bühne, wie man ihn im Theater auch hat, eventuell mit Opernglas für die Nahaufnahme. Und trotz der Beschränkung auf die Mattscheibe übermittelte sich die Kraft dieser fünf Choreographien, die den Abend zum Erlebnis machte. Ihre Schöpfer haben damit zum Teil erstmals eine Choreographie auf die Bühne gebracht, allen kann man eine große Zukunft auf dieser Bühne voraussagen.

 

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