Eine Fotografie ist eine bildgebende Methode, bei der mittels Licht ein Bild der Welt festgehalten wird, das mittels eines Objektivs auf einen lichtempfindlichen Film projiziert wurde – so die landläufige Vorstellung. Künstler wie Man Ray oder László Moholy-Nagy haben den Film auch direkt mit Licht in Kontakt gebracht und so vielleicht das griechischstämmige Wort Fotografie noch deutlicher umgesetzt: Lichtzeichnung. Die Fotografin Damaris Wurster steht in dieser Tradition, hat aber neue Wege beschritten, wie eine Installation in der Städtischen Galerie Sindelfingen belegt.
Ein ganzer Ausstellungsraum ist in Augenhöhe von einem breiten Bildfries umzogen, und wenn man sich in diese Bildwelten vertieft, dann könnte man meinen, mit dem Blick in die Weiten des Weltalls vorzudringen: Dunkles Nachtblau empfängt einen, erhellt von grellen Lichterscheinungen. Es könnten sich vor einem aber auch dunkle Tiefen der Weltmeere auftun, in denen sich plötzlich Wolken von Luftbläschen zusammenballen. Es könnte aber auch eine abstrakte, am Computer realisierte Fantasywelt sein.
Dabei hat Damaris Wurster nicht einmal eine Kamera nötig gehabt, sie hat einen handelsüblichen Kleinbildfilm aus der Rolle gezogen und dem Licht und dann chemischen Flüssigkeiten ausgesetzt, wie sie bei der Entwicklung von Filmen zur Zeit der Analogfotografie verwendet wurden. Sie hat also nicht einmal wie die Herren Ray oder Moholy-Nagy gezielt mit Licht gearbeitet, sondern den Zufall wirken lassen. Dabei wurde nicht nur Filmmaterial belichtet und entwickelt, sie setzte den Kunststoffstreifen den Chemikalien so lange aus, dass sich das Material zersetzte.
Ihr technisches Prozedere ist auf einer Karte, die ausliegt, genau beschrieben. Den Filmstreifen hat sie dann in seiner ganzen Länge gescannt und auf Latexpapier vergrößert ausgedruckt. Und so kann man nun Stück für Stück dieses langen Frieses durchgehen und spekulieren, durch welche Technik (bzw. Chemie) welcher Bildeffekt erzielt wurde. Die prismenartigen, spitzen hellen Flächen dürften dem Lichteinfall geschuldet sein, was wie ein Konglomerat von Luftbläschen in der Tiefsee wirkt, könnte Resultat der Materialzersetzung durch Säure sein. Doch wie entstanden jene magisch anmutenden bläulichen Farbwolken, warum überhaupt dominiert die Farbe Blau, warum findet sich nahezu an keiner Stelle reines Weiß oder gar Schwarz? So gelingt es der Künstlerin, dass sich der Betrachter anno 2021 noch einmal mit einer Technik auseinandersetzt, die längst Historie in der Herstellung von Fotos ist, und er stellt mit Erstaunen fest, dass mit der alten Technik, die viele als sehr viel weniger effektiv und weniger vielfältig in ihren Möglichkeiten halten als die neue digitale Technik, Dinge und Effekte möglich waren, die mit der modernen Kamera nicht möglich sind.
Vor allem aber kann der Betrachter seiner Fantasie freien Lauf lassen. Da es sich durchweg um abstraktes Farbgeschehen zwischen Blau und Weiß handelt, ist streng genommen nichts Konkretes zu sehen, und doch meint man hier eine Art Qualle zu entdecken, die sich mit ruckhaften und zugleich geschmeidigen Bewegungen durch das Wasser bewegt, dort glaubt man, eine sich im Wasser wiegende blühende Pflanze zu erkennen, dann wiederum spürt man fast einen schneidenden Schmerz am Zeigefinger, als habe man sich an einem spitzen Glassplitter verletzt – die Bildwelt dieses Kunstwerks ist so offen, dass man vom Hundertsten ins Tausendste kommen kann, wenn man sich auf die Flüge der Bildfantasie einlässt, und damit verführt diese Arbeit den Betrachter zugleich zum kreativen Sehen.
Dabei hat Damaris Wurster streng genommen eigentlich nichts anderes getan als Ray, Moholy-Nagy und Co. – sie hat Licht zeichnen bzw. malen lassen. Und sie hat ungleich mehr an Welt eingefangen, als der Betrachter es mit einem handelsüblichen Kleinbildfilm jemals hatte erreichen können. Denn er hatte allenfalls sechsunddreißig kleine Ausschnitte aus der optischen Gesamtheit der Welt festhalten können, dann wäre der Film voll gewesen, sie aber hat mit ihrem Verfahren letztlich all das, was die Welt als Ganzes in einer bestimmten Situation optisch zu bieten hatte, auf den Streifen gebannt, und sie hat den Filmstreifen nicht als Mittel zum Zweck – nämlich zur Herstellung von sechsunddreißig kleinen Einzelbildchen – „missbraucht“ wie der Hobbyfotograf, sondern als das präsentiert, was er war, als Filmstreifen, weshalb die Arbeit denn auch im Titel genau dieses Material benennt: KodakGold.
„Damaris Wurster. KodakGold“, Städtische Galerie Sindelfingen bis 12.9.2021